Die Zitadelle des Autarchen
Melito?«
»Gewiß will ich. Du liebst Foila nicht, wie ich sie liebe. Ich gäb’ mein Leben darum, sie zu haben, aber ich würd’ lieber sterben, als sie zu enttäuschen. Würde die Geschichte, die ich erzählte, gewinnen, könnt’ ich sie niemals enttäuschen, zumindest nicht mit meinen Geschichten. Ich kenne tausend bessere.«
Hallvard stand auf und setzte sich auf mein Feldbett, wie er es am Tag zuvor getan hatte, während ich die Beine über den Bettrand schwang und mich neben ihn setzte. Er sagte mir: »Was Melito redet, ist sehr klug. Alles, was er sagt, ist sehr klug. Dennoch mußt du uns anhand der erzählten Geschichte bewerten, nicht anhand derjenigen, die wir kennen, aber nicht erzählt haben. Auch ich kenne viele andere Geschichten. Unsere Winterabende sind die längsten in der ganzen Republik.«
Ich erwiderte, daß ich gemäß Foila, die den Wettbewerb ins Leben gerufen und sich selbst als Siegerprämie ausgesetzt hatte, noch gar nicht entscheiden solle.
Der Ascier sagte: »Alle, die im Rechten Geist sprechen, sprechen gut. Inwiefern also sind manche Studenten anderen überlegen? Es liegt am Sprechen. Intelligente Studenten sprechen intelligent im Rechten Geist. Der Zuhörer entnimmt dem Klang ihrer Stimme, daß sie verstehen, was sie sagen. Durch dieses überlegene Sprechen intelligenter Studenten wird der Rechte Geist wie Feuer von einem zum anderen weitergetragen.«
Keiner von uns hatte wohl damit gerechnet, daß er zuhörte. Wir waren alle ein wenig überrascht, als er nun das Wort ergriff. Nach einer Weile sagte Foila: »Er meint, du sollst nicht den Inhalt der Geschichte bewerten, sondern den Vortrag. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll – vielleicht ist was dran.«
»Das finde ich gar nicht«, wandte Hallvard ein. »Wenn man einer Geschichte lauscht, wird man rhetorischer Kunstgriffe bald müde. Am besten erzählt man schlicht.«
Andere stimmten in die Diskussion ein, und wir redeten noch lange darüber und sprachen vom kleinen Hahn.
Ava
Während meiner Krankheit hatte ich nie besonders auf die Leute geachtet, die uns das Essen brachten, obgleich ich mich an sie erinnern konnte, wenn ich mich darauf besann – wie ich mich an alles erinnern kann. Bald wurden wir von jener Pelerine bedient, mit der ich am Vorabend gesprochen hatte, bald von kahlköpfigen Sklaven oder von Novizinnen in brauner Tracht. An diesem Abend, dem Abend des Tages, an dem Melito seine Geschichte erzählt hatte, wurde das Essen von einer Novizin aufgetragen, die ich noch nie gesehen hatte, einem schlanken, grauäugigen Mädchen. Ich stand auf und half ihr beim Austeilen der Teller.
Nachdem wir fertig waren, bedankte sie sich und meinte: »Du wirst nicht mehr lange hier sein?«
Ich erklärte ihr, ich hätte hier etwas zu erledigen und wüßte ansonsten nicht, wohin.
»Du hast deine Legion. Wenn sie vernichtet worden ist, wird man dich einer neuen zuteilen.«
»Ich bin kein Soldat. Ich kam in den Norden, weil ich mich als Freiwilliger beim Heer melden wollte, wurde aber krank, ehe ich dazu Gelegenheit hatte.«
»Du hättest in deiner Vaterstadt warten können. Ich habe mir sagen lassen, es gibt in allen Städten mindestens zweimal jährlich eine Rekrutenaushebung.«
»Meine Vaterstadt ist leider Nessus.« Ich sah sie lächeln. »Aber ich habe sie vor einiger Zeit verlassen und hätte nicht irgendwo ein halbes Jahr herumsitzen und warten wollen. Außerdem bin ich auf diese Idee noch gar nicht gekommen. Bist du auch von Nessus?«
»Es bereitet dir Beschwerden, das Aufstehen.«
»Nein, es geht schon.«
Sie berührte mich am Arm – eine scheue Geste, die mich irgendwie an das zahme Wild im Garten des Autarchen erinnerte. »Du schwankst. Du hast zwar kein Fieber mehr, mußt dich aber erst wieder daran gewöhnen, auf den Beinen zu sein, vergiß das nicht! Du hast einige Tage nur gelegen. Nun geh wieder ins Bett, bitte!«
»Wenn ich das tue, habe ich niemanden zum Reden bis auf die Leute, mit denen ich schon den ganzen Tag geredet habe. Der Mann zu meiner Rechten ist ein gefangener Ascier, und der Mann links von mir stammt aus einem südlichen Dorf, wovon kein Mensch je gehört hat.«
»Also gut, wenn du dich hinlegst, setze ich mich ein bißchen zu dir. Ich habe bis zur Nachtmette sowieso nichts mehr zu tun. Aus welchem Viertel von Nessus kommst du?«
Während sie mich zu meinem Feldbett begleitete, erklärte ich, daß ich nicht reden, sondern zuhören wolle, und fragte, in welchem Viertel sie
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