Die Zitadelle des Autarchen
du fühltest, hätten sie dich umgebracht.«
»Das spielt keine Rolle. Ich trank den Alzabo. Ich aß ihr Fleisch. Zuerst war es eklig, wie du sagtest, obgleich ich sie liebte. Sie war in mir, und ich hatte Anteil an ihrem Leben, obwohl sie tot war. Ich konnte fühlen, wie sie dort verweste. In der ersten Nacht hatte ich einen wunderschönen Traum von ihr. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, und diese Erinnerung ist mir sehr teuer. Danach kam etwas Schreckliches, und manchmal schien ich zu träumen, obwohl ich wach war – das war wohl das Reden und Starren, wie du sagtest. Nun ist sie anscheinend seit langem wieder lebendig, lebt aber in mir.«
»Ich glaube nicht, daß es bei den andern auch so ist.«
»Ich auch nicht«, pflichtete ich ihr bei. »Zumindest von dem ausgehend, was ich über sie hörte. Es gibt recht viele Dinge, die ich nicht verstehe. Was ich dir erzählt habe, ist eines der wichtigsten Rätsel für mich.«
Ava blieb etwa drei oder vier Atemzüge lang stumm; dann machte sie große Augen. »Die Klaue, dieses Ding, woran du glaubst. Hattest du’s damals schon?«
»Ja, aber ich wußte nicht, was es vollbringen könnte. Es hatte noch nicht gewirkt – vielmehr hatte es zwar gewirkt und eine Frau namens Dorcas von den Toten erweckt, aber ich wußte nicht, was geschah, woher sie gekommen war.
Hätt’ ich das gewußt, hätt’ ich Thecla vielleicht retten, zurückholen können.«
»Aber du hattest es, hattest es bei dir?«
Ich nickte.
»Verstehst du denn nicht? Es hat sie doch zurückgeholt! Du sagtest gerade, es könne ohne dein Zutun und Wissen wirken. Du hattest es, und du hattest sie, verwesend, wie du sagtest, in dir.«
»Ohne den Leib …«
»Du bist ein Materialist wie alle Einfaltspinsel. Aber dein Materialismus macht den Materialismus nicht wahr. Ist dir das denn nicht klar? Im Endeffekt spielen nur Geist und Traum, Denken, Liebe und Handeln eine Rolle.«
Ich war so verdutzt durch diese Ideen, die über mich hereinbrachen, daß ich eine ganze Weile stumm blieb und meinen Gedanken nachhing. Als ich endlich wieder zu mir kam, war ich erstaunt, daß Ava nicht gegangen war, und wollte ihr dafür danken.
»Es war sehr friedvoll, hier bei dir zu sitzen, und wenn eine der Schwestern gekommen wäre, hätte ich sagen können, ich warte hier für den Fall, daß einer der Kranken nach mir ruft.«
»Ich bin mir noch nicht darüber im klaren, was du da über Thecla gesagt hast. Das muß ich mir erst eine Weile durch den Kopf gehen lassen; schon möglich, daß ich ein paar Tage brauche, um zu einem Schluß zu kommen. Ich muß mir immer wieder anhören, was für ein dummer Mensch ich sei.«
Sie lächelte; eigentlich hatte ich das (obwohl es stimmte) hauptsächlich deshalb gesagt, um ihr ein Lächeln zu entlocken. »Das glaub’ ich nicht. Eher ein recht gründlicher Mensch.«
»Wie dem auch sei, ich habe noch eine Frage. Wenn ich einschlafen will oder nachts wachliege, habe ich oft versucht, meine Fehlschläge und meine Erfolge miteinander in Beziehung zu setzen. Damit meine ich solche Male, als ich die Klaue gebrauchte und damit Tote wiedererweckte, und solche Male, als ich’s versuchte, aber das Leben nicht zurückkehrte. Ich habe den Eindruck, es steckt mehr als bloßer Zufall dahinter, obwohl mir das verbindende Glied vielleicht immer verborgen bleibt.«
»Was meinst du, hast du’s nun gefunden?«
»Was du über das Einbüßen der Menschlichkeit sagtest, könnte darunter fallen. Ich kannte eine Dame … auf die das vielleicht zutraf, obschon sie wunderschön war. Und ein Mann, mein Freund, erfuhr nur eine kleine Linderung, keine Heilung. Wenn es möglich ist, daß man seine Menschlichkeit verliert, so muß es auch möglich sein, daß man sie findet, selbst wenn man einmal keine hatte. Was der eine verliert, findet der andere, das ist überall so. Er war, glaube ich, so. Freilich scheint die Wirkung stets geringer zu sein, wenn der Tod gewaltsam eintritt …«
»Das wäre nur zu erwarten«, meinte Ava sanft.
»Es heilte den Menschenaffen mit der abgehackten Hand. Das rührte vielleicht daher, daß ich das selber getan hatte. Und es half Jonas, aber ich – Thecla – hatte ja diese Peitschen geschwungen.«
»Die Heilkräfte beschützen uns vor der Natur. Warum sollte der Increatus uns vor uns selbst schützen? Wir mögen uns vor uns selbst schützen. Vielleicht kommt er uns nur zur Hilfe, wenn wir bedauern, was wir getan.«
Ich nickte versonnen.
»Ich gehe jetzt zur Kapelle. Du
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