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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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seitdem Baldanders mit seiner Keule mein Terminus Est zerschmettert hatte.
    »Du darfst noch nicht gehn«, flüsterte der Autarch.
    »Ich lasse Euch nicht allein, solange Ihr lebt. Traut Ihr mir nicht?«
    »Wir werden beide leben und beide gehn. Du kennst jenen Frevel …« Seine Hand schloß sich um die meine. »Das Essen von Toten, das Verschlingen ihres Fleisches. Aber es gibt eine andere Möglichkeit, die du noch nicht kennst, und eine andere Droge. Die mußt du nehmen und die lebenden Zellen meines Vorderhirns essen.«
    Ich muß zurückgeschreckt sein, denn der Griff seiner Hand wurde fester.
    »Wenn du bei einer Frau liegst, ergießt du dein Leben in sie, so daß vielleicht neues Leben entsteht. Wenn du tust, was ich dir aufgetragen habe, werden mein Leben und das Leben aller, die in mir leben, in dir fortgeführt. Die Zellen werden in dein Nervensystem eindringen und sich dort ausbreiten. Die Droge findest du im Fläschchen, das ich um den Hals trage, und mit diesem Messer lassen sich die Knochen meines Schädels so leicht spalten wie Kiefernholz. Ich habe Gelegenheit gehabt, es zu benutzen, und ich versprech’s dir. Weißt du noch, daß du mir Treue geschworen hast, als ich das Buch zugeschlagen habe? Benutze das Messer jetzt, und geh so schnell, wie du kannst!«
    Ich nickte und versprach es ihm.
    »Die Droge wird stärker sein als alle, die du kennst, und obschon nur die meine ausgeprägt ist, sind es aberhundert Persönlichkeiten … Wir sind viele Leben.« »Ich verstehe«, sagte ich.
    »Die Ascier marschieren bei Morgengrauen weiter. Bleibt uns von der Nacht noch mehr als eine Wache?«
    »Ich hoffe, Ihr überlebt sie, Sieur, und noch viele mehr. Daß Ihr wieder gesund werdet.«
    »Du mußt mich nun töten, ehe die Urth sich der Sonne zukehrt! Dann werde ich in dir leben … und nie sterben. Daß ich noch lebe, ist ein reiner Willensakt. Ich hauche mit jedem Wort mehr von meinem Leben aus.«
    Zu meiner großen Überraschung stürzten mir helle Tränen aus den Augen. »Ich habe Euch schon als Kind gehaßt, Sieur. Ich habe Euch nichts getan, hätt’s aber, wenn ich’s vermocht hätte, und es tut mir leid.«
    Seine Stimme war gebrochen und nun schwächer als das Zirpen einer Grille. »Du hast schon recht gehabt, mich zu hassen, Severian. Ich stehe – wie auch du bald – für so viel Falsches.«
    »Warum?« fragte ich. »Warum?« Ich lag auf den Knien neben ihm.
    »Weil alles andere schlimmer ist. Bis die Neue Sonne kommt, haben wir nur die Wahl des geringsten Übels. Alle Möglichkeiten sind probiert worden, und alle haben versagt. Gemeinschaft aller Güter, Herrschaft des Volkes – alles. Wünschst du den Fortschritt? Die Ascier haben ihn. Er macht sie taub, und der Tod der Natur macht sie irre, bis sie bereit sind, Erebus und die anderen als Götter anzunehmen. Wir stützen und halten die Menschheit … in der Barbarei. Der Autarch schützt die Leute vor den Beglückten, und die Beglückten … schützen sie vor dem Autarchen. Die Religiösen spenden ihnen Trost. Wir haben die Straßen geschlossen, um die Sozialordnung zu lähmen …«
    Seine Augen fielen zu. Ich legte die Hand auf seine Brust und tastete den schwachen Herzschlag.
    »Bis die Neue Sonne …«
    Das war’s, dem ich zu entkommen suchte, nicht Agia oder Vodalus oder Ascien. So behutsam wie möglich streifte ich die Kette über seinen Kopf, löste den Verschluß des Fläschchens und schluckte die Droge. Mit jener kurzen, starren Klinge tat ich sodann, was getan werden mußte.
     
    Als das Werk vollbracht war, bedeckte ich ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit seiner safrangelben Robe und hängte mir das leere Fläschchen um den Hals. Die Droge hatte eine so heftige Wirkung, wie er vorausgesagt hatte. Du, der du dies liest und wohl immer nur ein Bewußtsein gehabt hast, kannst dir nicht vorstellen, was es heißt, zwei oder drei oder gar aberhundert zu haben. Sie lebten in mir und waren – jede auf ihre Weise – froh, in mir neues Leben erlangt zu haben. Der tote Autarch, dessen blutüberströmtes Gesicht ich vor wenigen Momenten gesehen hatte, lebte nun wieder. Meine Augen und meine Hände waren die seinen, ich wußte um das Wirken der Bienenvölker vom Haus Absolut und ihre Heiligkeit, die sie sich an der Sonne orientieren und die Früchte der Urth zu Gold läutern. Ich kannte seinen Weg zum Phönixthron und zu den Sternen und zurück. Sein Verstand war der meine und füllte den meinigen mit Geistesschätzen, die ich mir nie erträumt

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