Die Zufalle des Herzens
er sich von ihr gewünscht hatte: Sie möge seiner Familie auch weiterhin Essen bringen und ihr versichern, dass er genauso unglücklich sein würde wie die Lebenden.
Jack wohnte in der Velvet Mill, einer alten Textilfabrik in Manchester, die man Anfang der Neunziger in Wohnungen umgewandelt hatte. Damals war das seinen Worten nach eine Spitzenadresse gewesen, und er hatte als einer der ersten einen Mietvertrag unterschrieben und sich ein » 1 a-Plätzchen« im obersten Stock gesichert. Sie trafen sich an seiner Wohnungstür, wo er sie mit seinen kräftigen Armen vollständig umfing und murmelte: »Wie kommt’s, dass du so spät dran bist?«
Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie sich entschloss zu lügen und zu sagen, eine Straße sei gesperrt gewesen und sie habe eine andere Route finden müssen. Klar war nur, dass sie nicht darüber reden wollte.
Nachdem Dana die Truthahnpastete zum Aufwärmen in den Ofen geschoben und sich Jacks Beiträge zu ihrem Mahl angesehen hatte – eine Tüte Tiefkühlmais, eine Schüssel Kartoffelchips und ein länglicher Laib Weißbrot mit der Aufschrift »Französisches Baguette!« auf der Papierbanderole –, war sogar sie es, die die Aktivität des Abends in Gang setzte. Sie wandte sich vom Anblick eingebrannten Fetts rund um die Herdplatten ab und drückte sich an seine Brust, die so fest und angenehm warm war wie eine sonnengewärmte Steinmauer.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, denn selbst in Stiefeln mit Absätzen war sie nicht annähernd groß genug, um ihr Gesicht auf eine Höhe mit seinem zu bringen. Doch erst als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie seine vollen Lippen auf ihren spürte, konnte sie endlich die Vorstellung von Dermotts blutleerem Gesicht und seinen kalten Händen in einer fernen Ecke ihres Bewusstseins ablegen. Ihre Lippen öffneten sich, ebenso wie die von Jack, dessen Zungenspitze zunächst nur bis an den Rand ihrer Zähne in ihren Mund glitt, sich noch einmal zurückzog und dann etwas tiefer eindrang, bis sie ihn wie einen Baum besteigen und sich an der Sicherheit seiner Äste festklammern wollte. Er küsste gut, besser als jeder andere, und das war alles, woran sie hier und jetzt denken wollte.
- 29 -
A ls Kenneth am Sonntagabend die Kinder brachte, kam er mit ins Haus, statt sich in der Einfahrt von ihnen zu verabschieden. In der Diele blieb er stehen und beobachtete, wie sie ihre Reisetaschen und Jacken auf den Boden fallen ließen, so als studierte er das Wanderverhalten eines Nomadenstammes.
Morgans Handy piepte; sie zog es aus ihrer Jackentasche und schielte auf das Display. »Kimmi schläft morgen Abend hier«, verkündete sie.
»Aber es ist ein …«
»Nein, ist es nicht, Mom«, stellte Morgan richtig. »Am Dienstag haben wir keine Schule. Da ist Tag der Soldaten oder so was.«
»Quatsch, Morgan, das ist der Tag der Veterinäre«, widersprach Grady. »Da kriegen die frei und brauchen sich nicht mit den Innereien von Pelikanen und Ziegenkacke und so Zeug zu beschäftigen.«
»Igitt.« Ohne von ihrer SMS an Kimmi aufzublicken, brachte Morgan ihren Ekel zum Ausdruck.
»Genau genommen ist es der Veteranentag«, sagte Kenneth, bemüht, ein Lachen zu unterdrücken. »Da erinnern wir uns all der Menschen, die für unser Land gekämpft haben.«
»Erinnern?«, sagte Grady. »Ich kenne die doch gar nicht.« Er packte Kenneths Hand. »Guck mal, Mom. Ich kann immer noch dieses Drehding.«
Als seine Füße an Kenneths Beinen hinaufliefen und sich zu einem Überschlag rückwärts abstießen, gab Kenneth ein angestrengtes Stöhnen von sich. »Allmählich wirst du zu groß dafür, Kumpel.«
»Du musst einfach mehr trainieren«, sagte Grady. »Vielleicht kann ich ja morgen bei dir übernachten, und wir können wieder zusammen ins Fitnessstudio gehen!«
»Das geht nicht«, erklärte er Grady. »Es ist zwar Tag der Veteranen, aber ich muss trotzdem ins Büro gehen.«
»Ich könnte ja bei Tina bleiben, bis du nach Hause kommst.« Wieder nahm er Kenneths Hände, um an ihm hochzuklettern und einen Überschlag zu machen.
»Tina muss auch arbeiten«, sagte Kenneth, während er sich aus Gradys Griff befreite und ihm auf die Schulter klopfte. »Aber weißt du was? Wir sehen uns in zwei Wochen, und dann gehen wir ganz bestimmt ins Fitnessstudio, versprochen.«
Grady gab den Versuch auf, nach Kenneths Händen zu greifen. »Zwei Wochen?«, sagte er, erstaunt zu seinem Vater aufblickend, die Stimme vor Überraschung gedämpft. »Zwei Wochen
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