Die Zufalle des Herzens
Zweifel hegte, kam es ihr vor, als hätte jemand ihr eine Rettungsleine zugeworfen, so dünn sie auch sein mochte, und zum allerersten Mal an diesem Tag erlaubte sie es sich, tief durchzuatmen. Als sie sich umdrehte, um die Autotür zu öffnen, geriet Pollys zu einem zaghaften Lächeln zusammengekniffenes Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe in ihr Blickfeld.
Für einen ganz kurzen Moment wünschte Dana sich nichts sehnlicher, als aus dem Auto zu steigen und sich in die feste Umarmung ihrer Freundin fallen zu lassen. Wenn es je eine Zeit gegeben hatte, wo sie Pollys Standfestigkeit, ihre hartnäckige Bestimmtheit und unmäßige Liebe brauchte, dann war es jetzt. Doch dieses besorgte Lächeln, das ihre Gesichtszüge wie eine unbedachte Tätowierung entstellte, erinnerte Dana nur an Pollys Verbrechen.
Dana stieg aus. »Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen«, sagte sie, während sie mit großen Schritten aufs Haus zuging.
»Lass uns einen Spaziergang machen.« Durch die Nervosität in Pollys Stimme klang es wie eine Frage.
Dana nahm die erste Stufe zur Veranda. »Morgan wartet auf mich.«
»Dana«, rief Polly und dann eindringlicher: »Dana!«
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihrer Nachbarin um. »Was.«
Die Beine gespreizt, die Arme angespannt seitlich am Körper, war Pollys elfengleicher Körper auf einen Angriff gefasst. »Wie geht es ihr?«
Jetzt war für Dana offensichtlich, dass Polly Bescheid wusste. Nora hatte sie vermutlich angerufen, um sich über den morgendlichen Streit auszulassen, und ihr gesteckt, dass sie ausgeplaudert hatte, was Polly gesagt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte Dana eine solche Lust verspürt, jemanden zu ohrfeigen. »Ihre beste Freundin hat sie gerade den Haien zum Fraß vorgeworfen«, sagte sie knapp. »Sie ist todunglücklich.«
Pollys Brust hob sich kurz, als sie Luft holte. »Darf ich … Würdest du mich mit ihr sprechen lassen? Vielleicht kann ich …«
Dana spürte, wie in ihren Hauptadern Feuerwerkskörper losgingen, winzige Explosionen, die ihr die Kehle verbrannten und ihre Worte zischen ließen. »Soll das ein Witz sein? Du hast sie verraten! Ich habe dir etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, und du hast es weitergegeben – an eine aus deiner Büchergruppe , Herrgott noch mal! Vielleicht ja sogar an die ganze Gruppe – oder an die ganze verfluchte Stadt!« Dana kam die Stufen herunter, ihr Finger schnellte vor. »Sie fühlt sich elend und gedemütigt , und nein , du kannst sie nicht sehen, und nein, ich will keinen Spaziergang mit dir machen. Geh doch einfach nach Hause !«
Sie ging die Stufen zum Haus wieder hinauf und machte die Tür hinter sich zu. Ihre Knie wurden weich und zittrig, und ihre Handtasche plumpste zu Boden. Das ist die zweite Freundin, die ich verloren habe, dachte sie, und der Tag ist noch nicht einmal zur Hälfte um.
Sie kehrte nicht zur Arbeit zurück. SMS kreuzten Cotters Rock in alle Richtungen, als wären sie hungrige Heuschrecken auf der Suche nach ihrer nächsten gerüchteschweren Mahlzeit. Diejenigen unter ihnen, die bei Morgan landeten, lasen sich in der Regel etwa so: WARUM HAST DU LÜGEN ÜBER KIMMI ERZÄHLT ?
Darby gab ihr den Rat: VLLT . SOLLTEST D . MORGEN KRANK ZUHAUSE BLEIBEN .
Devynne kam direkt zur Sache: DU HAST KEINE FREUNDE MEHR LOSER .
Morgan war außer sich vor Scham und Sorge und konnte sich erst am Nachmittag etwas beruhigen, als sie sich an ihr Referat mit dem Titel: »Der Wolf: Jäger oder Beute?« setzte. Dana rief Tony an, um ihm zu sagen, dass es einen kleinen Notfall gebe und sie heute nicht mehr zur Arbeit kommen könne.
»Kein Problem«, sagte er. Nach der Art des Notfalls fragte er nicht.
An diesem Abend zu Bett zu gehen, hätte eine Erleichterung sein müssen. Morgan schlief schon. Sie war weg gewesen, kaum dass sie sich hingelegt hatte; die Adrenalinflut, die sie den ganzen Tag überschwemmt hatte, hatte sie todmüde gemacht.
Diesmal war es Dana, die nicht schlafen konnte, denn sie wusste, wie schlimm der nächste Tag werden würde. Es war verlockend, Morgan zu Hause zu behalten, die Heuschrecken einen Tag lang an dem saftigen Leckerbissen des Skandals knabbern zu lassen und zu hoffen, dass er sie am Donnerstag schon nicht mehr reizen würde. So hatte es ihre eigene Mutter gemacht, als ihr Vater gegangen war: Sie hatte Dana und Connie erlaubt, zu Hause zu bleiben. Und Dana hatte sich daraufhin unter ihrer Ballerinabettdecke zusammengerollt und den unglaublich sinnlichen Blick
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