Die Zufalle des Herzens
großgewachsenen Frau hob sich, während ihr langer Hals sich wieder zu seiner natürlichen Lage aufrichtete.
»Ist das …?«, murmelte Dana.
»Ja«, sagte Marie und schrieb gleichzeitig etwas auf die Karte. »Vor zwei Monaten war sie schon mal hier. Sie haben sich auf einer Konferenz kennengelernt und sich gut verstanden. Zahngespräche«, sagte sie trocken. » So romantisch.«
Martine . Sie sprach schnell und streckte dabei die Hände aus, um die seinen zu halten. Dana konnte nichts hören, von ein paar betonten Satzfetzen abgesehen: »… möchte so gerne … würde niemals … der Gedanke an …« Tony nickte – zur Einwilligung?, fragte sich Dana. Oder will er sie bei Laune halten? Tony nickte wieder und hob die Hände der Frau an seine Lippen.
Danas Brustkorb fühlte sich seltsam eng an. Bemüht, das zu ignorieren, drehte sie sich zu Marie um. »Ich wünsche Ihnen ein schönes Thanksgiving! Irgendwelche Pläne?«
Marie gab Dana die Patientenkarte. »Ich feiere Thanksgiving nicht«, sagte sie und ging den Flur hinunter, um Instrumente zu sterilisieren.
Dana konnte nicht einfach im Flur stehen bleiben, ebenso wenig konnte sie aber zu ihrem Schreibtisch zurückkehren und die beiden in diesem Moment der Zweisamkeit stören. Sie wich in Tonys Büro aus, wo sie, an die Wand gelehnt, innehielt. Jetzt hat er zu Thanksgiving seine Freundin und seine Töchter da . Das ist schön . Sie war keiner von den Menschen, die anderen ihr Glück missgönnten, nicht einmal im Angesicht ihrer eigenen Entbehrungen. Und so hasste sie sich dafür, dass das Selbstmitleid, das ihr die Brust zuschnürte, nicht nachlassen wollte. Als Stimmen näher kamen, schlüpfte sie aus dem Büro hinaus, bevor sie erwischt werden konnte.
»Dana«, sagte Tony, der sie einholte, ehe sie die Sicherheit ihres Empfangstresens erreicht hatte. »Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«
»Oh, natürlich!«, sagte sie, auf respektvoll-freundlich umschaltend. Tony stellte sie einander vor, worauf die beiden Frauen sich die Hand schüttelten und Martine ihr anscheinend typisches flüchtiges Lächeln aufblitzen ließ.
»Sie sind die Alleinerziehende«, sagte sie spontan, und Dana zuckte unwillkürlich zusammen. Offenbar hatte Tony Martine von ihr erzählt, sie auf ihre Familienverhältnisse und vielleicht auch ihre ernste finanzielle Lage hingewiesen. Dana konnte ihn nicht einmal ansehen.
Sie zwang sich wieder zu einem Lächeln und sagte: »Ja, das bin ich wohl. Ihnen beiden ein tolles Thanksgiving. Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen!« Dann hechtete sie praktisch zu ihrem Schreibtisch hinüber. Es gab nicht mehr zu tun, als die Patientenkarte, die Marie ihr gegeben hatte, einzuordnen, ihren Computer herunterzufahren und den Anrufbeantworter anzustellen. Als sie dann zur Tür ging, machte sie sich nicht einmal die Mühe, ihren Mantel zuzuknöpfen, den Schal stopfte sie in die Handtasche. Marie kam gleich hinter ihr.
»Passt nicht, oder?«, sagte Marie, als sie ins fahle spätnachmittägliche Licht hinaustraten.
»Wie bitte?«
»Tony und die französische Kieferorthopädin. Die Sophie Marceau des Zahnarzt-Filmsets.«
»Ich hab gar nicht richtig …« Dieser unerwartete Wortschwall von der sonst chronisch schweigsamen Marie hatte sie ganz durcheinandergebracht. »Ich hab sie nur einen Moment lang gesehen.«
»Trotzdem ist es Ihnen klar. Da fehlt das Gleichgewicht.« Marie ging zu ihrem Auto. Von Nettigkeiten zum Abschied hielt sie nichts. Wie von Nettigkeiten überhaupt.
Als Dana nach Hause kam, stand Alders Käfer, ramponiert wie ein heimkehrender Kriegsveteran, hinter dem VW -Bus ihrer Mutter in der Einfahrt. Connie und Alder traf sie Pistazien schälend und essend am Küchentisch an. Jet saß auf dem Tresen, ließ ihre Chuck Taylors gegen die Schranktüren darunter knallen und aß Haferkleie- und Leinsamenmüsli aus der Packung.
»He, Süße«, sagte Dana zu Jet, während sie ihr das Knie tätschelte. Sie nahm der jungen Frau die Schachtel aus der Hand, schüttete ein bisschen Müsli in eine Schüssel und gab sie ihr.
»Meine Mom ist in der Reha«, sagte Jet zwischen zwei Mundvoll Müsliflocken.
»Was?«
»Ja, sie hat auf einen Platz gewartet, und jetzt ist endlich einer frei.«
»Mensch, das ist ja super, oder?«
»Das können Sie laut sagen«, nuschelte Jet.
»Kann Jet mit uns Thanksgiving feiern?«, fragte Alder. »Eigentlich soll sie bei dem Cousin ihrer Mutter bleiben, aber der fährt nach Buffalo und feiert da mit den
Weitere Kostenlose Bücher