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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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herabgesenkt hatte. Die Wunde auf meinem Bauch pochte. Sie war nicht tief, aber ich würde einen Verband brauchen. Als wir nass und endlich wieder einigermaßen sauber zurück zu den anderen gingen, machte Draufgänger sich gerade auf den Weg– vermutlich zu Elder Bigwater.
    Die Notfallversammlung war mehr als überfällig.

VERSAMMLUNG
    In der ganzen Stadt gab es kein Gebäude, das groß genug für alle war, also versammelten wir uns auf der Wiese. Es war ein chaotisches Schauspiel. Alle schrien durcheinander, verlangten Erklärungen und Antworten. Ich stand mit Bleich am hinteren Ende der Menschentraube und wartete gespannt auf das Ergebnis.
    Draufgänger hatte den Stadtvorsteher gefunden und führte ihn aus der Menge. Es war das erste Mal, dass ich Justines Vater sah. Er war ein hoch aufgeschossener dürrer Mann mit eingefallenen Wangen. Seine Backenknochen standen scharfkantig hervor, die dunklen, tief liegenden Augen saßen unter einer hohen, vorspringenden Stirn. Justine kam eindeutig nach ihrer Mutter, und das war gut so. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Mädchen mit einem solchen Gesicht es hier in Erlösung zu etwas bringen sollte.
    Oma Oaks stellte sich zu uns, und Edmund folgte ihr, wie er es so oft tat. Sie musterte mich von oben bis unten, und als sie sah, dass ich noch in einem Stück war, entspannte sie sich sichtlich. Edmund lächelte uns zur Begrüßung an, sagte aber nichts, weil die Versammlung jeden Moment beginnen konnte. Bleich nahm meine Hand. Seine Gegenwart tröstete mich. Unsere vermeintlich sichere Zuflucht war gerade erst bis in die Grundfesten erschüttert worden, aber ich nahm es mir nicht so sehr zu Herzen wie manch andere, die ich leise weinen und schluchzen sah. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass es so etwas wie Sicherheit nicht gab. Und jetzt war diese Erkenntnis wie ein Geschenk, das sie mir Unten mit auf den Weg gegeben hatten.
    » Ruhe!«, rief Bigwater mit volltönender Stimme. Alle, die nicht sofort gehorchten, bedachte er mit einem strafenden Blick, und schließlich kehrte Stille ein. » Ich höre, es gab Probleme mit der Aussaat.«
    » Wir haben schon elf Tote«, rief einer der Pflanzer, » und nicht eine einzige Ähre auf den Feldern!«
    Bigwater runzelte die Stirn. » Ich habe dir nicht das Wort erteilt. Zuerst möchte ich einen offiziellen Bericht von Draufgänger, dann werde ich die Diskussion eröffnen.«
    In Worten, wie auch ich sie gewählt hätte, fasste Draufgänger zusammen, was passiert war. Weder ließ er etwas weg, noch beschönigte er. Als er zu Ende gesprochen hatte, wirkte Bigwaters Gesicht noch düsterer. Es erinnerte mich an die Vögel, die wir auf dem Marsch hierher gesehen hatten. Sie waren schwarz und hüpften zwischen den Leichen umher, zupften das Fleisch von ihren Knochen.
    » Das ist in der Tat eine ernsthafte Bedrohung«, sagte er schließlich. » Dennoch bin ich nicht gekommen, um mir eure Klagen über die misslichen Ereignisse anzuhören. Wer einen Lösungsvorschlag hat, der möge sein Bürgerzeichen heben, und ich werde ihm das Wort erteilen.«
    Bürgerzeichen? Ich hatte keines und Bleich auch nicht. Vielleicht lag es an unserem Alter. Vielleicht brauchten wir noch mehr Geburtstage, damit wir auf einer öffentlichen Versammlung sprechen durften. Das war ungerecht. Das Alter hatte nichts damit zu tun, ob man denken konnte oder nicht.
    Eine Weile waren alle totenstill, dann trugen die Pflanzer noch einmal die gleichen Vorschläge vor, die sie schon auf dem Weg hierher gemacht hatten.
    Der Stadtvorsteher hielt nichts davon, einen Zaun um die Felder zu errichten. » Eine unbewachte Mauer hätte überhaupt keinen Sinn. Sie würde diesen Monstern nur die Möglichkeit geben, einen Weg zu finden, wie sie hinüberklettern oder sie zerstören können. Du!« Er deutete auf einen Mann, der sein Zeichen erhoben hatte.
    » Wir können die Felder nicht unbeaufsichtigt lassen, so viel ist klar«, sagte er. » Sie müssen Tag und Nacht bewacht werden.«
    » Und wer von euch wäre so… unerschrocken?« Sein Zögern machte deutlich, dass er eigentlich » verrückt« meinte und den Vorschlag für genauso unsinnig hielt wie den ersten.
    Er selbst schien allerdings auch keine Lösung für das Problem zu haben. Stadtvorsteher Bigwater kam mir vor wie einer jener Ältesten, die sich gerne aufs Führen beschränkten, während die anderen die Arbeit erledigten und sie selbst das Lob dafür einstrichen.
    Schweigen senkte sich über die Versammlung.

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