Die Zuflucht der Drachen - Roman
solltest besser gehen«, schluchzte Seth mit tränenüberströmten Wangen. »Mom und Dad dürfen dich nicht hier finden.«
»Ich hätte gleich … Mir war nicht bewusst …«
»Wer konnte das vorhersehen?«, krächzte Seth heiser. Er näherte sich seiner Schwester, versuchte, einen Puls zu finden, streichelte ihr Gesicht und suchte nach einem Zeichen von Leben. Doch es gab keins.
Gemeinsam legten sie Kendra zurück in ihr Bett. Mom und Dad würden denken, sie wäre friedlich im Schlaf verstorben. Seth konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich brachte Warren ihn zurück in sein eigenes Zimmer, wartete, bis er wieder im Bett lag und schlüpfte aus dem Fenster.
Seth konnte nicht schlafen. Nach kurzer Zeit war sein Kissen vollkommen durchweicht. Er musste unaufhörlich an den leblosen Körper im Zimmer seiner Schwester denken. Sie hatten so viel zusammen durchgemacht. Und nun hatte Kendra ihn verlassen.
KAPITEL 4
Gefangen
A ls der Minivan in der Dunkelheit ausrollte und anhielt, wusste Kendra nicht, ob sie ihr Ziel nun endlich erreicht hatten. Gefesselt und geknebelt in einem engen, fensterlosen Anhänger hinter dem braunen Gefährt, hatte sie sich mit der trostlosen Aussicht angefreundet, dass sie vielleicht den Rest ihres Lebens damit verbringen würde, von Campingplatz zu Campingplatz gefahren zu werden.
Den vergangenen Tag hatte Kendra an einen Baum gefesselt in einem abgelegenen, bewaldeten Campingbereich verbracht und Apfelmus, gebackene Bohnen und Dosenpudding gegessen. Ein kleines Lagerfeuer hatte die Kälte abgehalten, aber wenn der Rauch in ihre Richtung wehte, war es unerträglich gewesen. Zuvor hatte man sie mitten in der Nacht vom Kinderhort in den Anhänger gebracht, und dann war sie stundenlang auf Highways und kurvenreichen Straßen herumgefahren worden.
Der falsche Rex sprach nicht viel, aber er hatte versucht, es ihr einigermaßen bequem zu machen: Über ihr lagen mehrere Decken, unter ihr etliche Kissen, und zumindest sorgte der hinterhältige Stechbulbus dafür, dass sie zu essen und zu trinken bekam. Aber es gab jede Menge Unannehmlichkeiten. Kendra hatte auf keine richtige Toilette gehen können, der Knebel war widerwärtig, und ihre Fesseln hatten sich als frustrierend fest erwiesen.
Plötzlich schwang die Tür des Anhängers auf, und zwei Gestalten leuchteten mit Taschenlampen in Kendras Richtung. Sie blinzelte in das Licht, während die Gestalten näher kamen, sie in eine ihrer Decken wickelten und aus dem Anhänger schleppten. Kendra beschloss, sich nicht zu wehren. Welche Aussicht auf Erfolg hätte sie schon gehabt? Gefesselt und geknebelt, wie sie war, hätte jeder Widerstand ihr bestenfalls einen Schlag auf den Kopf eintragen.
Während die Fremden sie trugen, verrutschte die Decke über ihrem Gesicht, und Kendra sah unvermittelt den Sternenhimmel über sich, vor dem sich ein großes, heruntergekommenes Haus abzeichnete. Der Kokon wurde die Verandastufen hinauf und durch die Vordertür getragen. Obwohl im Haus kein Licht brannte, sah Kendra mit ihren Feenaugen, dass das Innere besser möbliert war, als das Äußere hätte vermuten lassen. In Schräglage ging es eine Treppe hinauf und dann, wieder waagerecht, durch eine Doppeltür in einen hell erleuchteten Raum, wo sie auf einen glänzenden Holzboden gelegt wurde.
Als Kendra aufschaute, sah sie, dass einer der Männer, die sie getragen hatten, der falsche Rex war. Der andere war ein untersetzter bärtiger Mann mit Sonnenbrille. Die beiden Männer zogen sich zurück, und Kendra sah sich um. Abstrakte Kunst in kräftigen Farben schmückte die Wände, von kleinen Leuchten an der Decke geschmackvoll erhellt. Über dem prunkvollen Kaminsims hing eine elegante, ebenfalls angeleuchtete Uhr, und Metallskulpturen verschiedener Größe verliehen dem Raum einen ganz besonderen Charakter.
»Du bist also diejenige, der dies ganze Theater galt«, verkündete eine weibliche Stimme.
Kendra rollte sich herum, um die Sprecherin anzusehen. Die Frau von gut fünfzig Jahren war schlank und trug ein modisches, rotes Kleid. Ihre dicke Schminke war von sachkundiger Hand aufgetragen. An den Fingern ihrer in die Hüfte gestemmten Hände glitzerten Ringe. Das blonde Haar trug sie kurz und gelockt, und die Frisur wirkte eine Spur zu jugendlich für ihr Alter.
Mit klappernden Stöckelschuhen kam die Frau auf Kendra zu und zog ein Klappmesser aus ihrer Handtasche. Die Klinge schnappte auf, und Kendra starrte sie mit großen Augen an. Mit
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