Die Zuflucht der Drachen - Roman
Lasst mich meine Fähigkeiten einsetzen, und ich werde euch helfen, Kendra wiederzufinden.«
»Ein überzeugendes Argument«, seufzte Opa. »Was meinst du, Tanu?«
»Ruth wird das nicht gefallen«, erwiderte Tanu. »Aber Vanessa hat recht. Es wäre unklug, den Stechbulbus an uns auszuliefern, wenn sie nicht auf unserer Seite ist. Schon allein das Wissen, dass der Sphinx über Stechbulben verfügt, ist für uns eine unschätzbare Information.«
»Seth?«, fragte Opa.
Seth fühlte sich so geschmeichelt, dass Opa ihn nach seiner Meinung fragte, dass er einen Moment brauchte, um seine Gedanken zu ordnen. »Ich finde, wir sollten den Stechbulbus in die Stille Kiste stecken und Vanessa für uns spionieren lassen.«
Vanessa zog eine Augenbraue hoch. »Und du, Stan?«
»Tanu hat recht, was Ruth betrifft. Sie wird nicht wollen, dass wir dir gegenüber Entgegenkommen zeigen. Wir werden dich hier unten in einer Zelle festhalten müssen, zumindest zu Anfang. Wir werden versuchen, es dir gemütlich zu machen. Vanessa, lass mich eins klarstellen: Wenn du über irgendeinen von uns im Schlaf die Kontrolle übernimmst, werde ich das als unwiderlegbaren Beweis dafür werten, dass du mit unseren Feinden unter einer Decke steckst – ein Verbrechen, auf das der Tod steht.«
»Verstanden«, erklärte sie ruhig.
Opa nickte. »Wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Ich will, dass du dich sobald wie möglich auf die Suche nach schlafenden Mitgliedern der Gesellschaft machst, die uns helfen können, Kendra zu finden.« Opa bückte sich und half dem Stechbulbus auf die Beine. »Lasst uns Coulter befreien.«
KAPITEL 8
Der Rucksack
I m Raum war es dunkel, aber wie immer konnte Kendra sehen. Außerstande zu schlafen, starrte sie an die Decke und beobachtete eine winzige Spinne, die über die strukturlose weiße Fläche kroch. Sie fragte sich, wie der Raum für das kleine Spinnentier aussehen mochte, das sich kopfüber langsam vorwärtsbewegte. Da sie wusste, dass Spinnen viele Augen haben, konnte sie nun viel besser nachfühlen, wie sie die Welt wahrnehmen.
Wenn sie sich an ihre Begegnung mit dem Okulus erinnerte, wurde ihr immer noch schwindlig. Ein halber Tag war seitdem vergangen, und Kendra merkte, dass sie die Bilder nicht zurückholen konnte. Sie waren zu verwirrend gewesen, zu verschieden davon, wie Kendra immer gesehen hatte und wie sie auch jetzt sah. Sie konnte sich nur nebelhaft an das Gefühl erinnern, die Welt aus Milliarden von Perspektiven gleichzeitig wahrzunehmen.
Was, wenn es dem Sphinx oder jemand anderem aus der Gesellschaft gelang, den Okulus zu benutzen? Dann würde es keine Geheimnisse mehr geben. Die Gesellschaft würde alles sehen, jeden, überall.
Bei dem Gedanken schauderte sie.
Morgen würde sie mit dem Sphinx und seinem verrückten Gefolge aufbrechen. Wohin würde man sie bringen? Würden sich unterwegs Möglichkeiten zur Flucht bieten? Konnte sie womöglich mit dem Okulus entkommen? Das wäre ein Riesencoup!
Die Tür zu ihrem Zimmer glitt lautlos ein Stück weit auf. Kendra hatte kein Schloss klicken hören, die Bewegung aber aus dem Augenwinkel gesehen. Ihr Körper versteifte sich.
Eine Hand kam durch den schmalen Spalt und legte etwas auf den Boden.
»Hallo?«, rief Kendra leise. »Wer ist da?«
Die Tür wurde geschlossen.
Kendra schwang die Beine aus dem Bett und öffnete die Tür. Sie spähte auf den dunklen Flur hinaus, sah aber niemanden. War die Tür die ganze Nacht unverschlossen gewesen? Hatte der heimliche Besucher sie leise aufgeschlossen?
Auf dem Boden direkt hinter ihr lag ein hellbrauner Lederrucksack. Daneben ein Stück Papier. Kendra hob es auf und las:
Du musst heute Nacht fliehen. Der Rucksack enthält ein extradimensionales Aufbewahrungsfach. Du passt mühelos hinein. Sobald du drin bist, kann der Rucksack flach zusammengedrückt, umhergeworfen oder fallen gelassen werden, und du wirst nichts davon spüren. In der vorderen Tasche findest du einen Stechbulbus. Stich dich damit, warte, bis die Kopie Gestalt annimmt, und erteile ihr dann Instruktionen. Lass sie hier zurück und versuche, so schnell und so weit von hier wegzukommen wie möglich. Beeil dich!
Der Zettel war nicht unterschrieben. Kendra war froh, dass sie ihn lesen konnte, ohne Licht zu machen – besser keine Aufmerksamkeit erregen, jetzt, da eine Flucht plötzlich in greifbare Nähe gerückt war.
Ihr Herz hämmerte. Sie öffnete die Tür, spazierte zur Treppe und lauschte. Im Haus war alles still. Wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher