Die Zuflucht der Drachen - Roman
Kleider, die sie bei ihrem Gespräch mit dem Sphinx angehabt hatte, außerdem zog sie die Jacke an, die sie bei ihrer Entführung getragen hatte. Den Rest ihrer Klamotten knüllte sie zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Dann setzte sie sich im Schneidersitz vor den Rucksack und las den Brief noch einmal durch. Das Beste wäre offensichtlich, wenn sie in den Rucksack stieg und ihn von ihrem Stechbulbus-Duplikat durch die unsichtbaren Gitterstäbe vor dem Fenster schieben ließ. Sobald sie auf dem verschneiten Boden gelandet war, würde sie aus dem Rucksack steigen und machen, dass sie wegkam.
Bloß, wohin? Wahrscheinlich würde sie den Rucksack irgendwo unter einem Busch verstauen und sich bis zum Morgen darin verstecken können. Würde sie ein Telefon finden und zu Hause anrufen können? In einer Kleinstadt wie dieser war das mitten in der Nacht vielleicht gar nicht so einfach.
Ob der Wisperhund auf das Duplikat hereinfallen würde? Torinas Worte hatten so geklungen, als würde er die Gefangenen über den Geruch identifizieren. Wenn also die Kopie genauso roch wie Kendra, dürfte der Hund eigentlich nichts merken. Kendras Geruch würde das Haus nicht verlassen. Natürlich konnte es immer noch Schwierigkeiten geben, wenn der Wisperhund ihren Duft draußen witterte. Doch offenbar war, wer auch immer den Rucksack in ihr Zimmer gelegt hatte, davon ausgegangen, dass die List funktionieren würde. In ihrer verzweifelter Lage war es das Risiko allemal wert.
Kendra rutschte über den Boden und lehnte sich an ihr Bett. Der Stechbulbus wuchs so langsam, dass sie die Veränderung erst bemerkte, wenn sie für ein paar Minuten wegschaute und dann wieder hinsah.
Sollte sie Haden und Cody anbieten, mit ihr zu kommen? Wenn sie sie verrieten, würde Kendra ihre einzige Chance auf Flucht verlieren. Die vorzeitig gealterten Männer waren verbittert über das, was Torina ihnen angetan hatte, aber sie schienen sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Sie hatten vielleicht kein Interesse daran auszubrechen. Schließlich stellte Torina ihnen ein kostenloses Altersheim zur Verfügung, ein Angebot, das anderswo gar nicht so leicht zu finden war.
Aber war es fair, ihnen die Gelegenheit zu verweigern, selbst zu entscheiden? Die Männer mochten sich im Stillen schon lange danach sehnen, ins normale Leben zurückzukehren. Sie passten gewiss mit in den geräumigen Rucksack, auch wenn Haden vielleicht seine liebe Not haben würde, die Leiter hinunterzukommen. Sie waren beide sehr nett zu ihr gewesen. Es wäre falsch, sie einfach im Stich zu lassen. Kendra brauchte sie ja nicht in die Einzelheiten ihres Fluchtplans einzuweihen. Damit konnte sie warten, bis sie sich bereiterklärt hatten, sich ihr anzuschließen. Wenn sie sich entschieden, ihr Angebot abzulehnen, brauchte sie weder ihr Duplikat noch den Rucksack zu erwähnen. Sie würden nicht einmal merken, dass Kendra entkommen war, sondern einfach annehmen, dass sie ihre Meinung eben geändert hatte.
Ganz allmählich wurde der Stechbulbus größer. Kendra fragte sich, wann er anfangen würde, wie ein Mensch auszusehen. Noch war er nichts weiter als eine übergroße, violette Süßkartoffel. Kendra lehnte sich wieder ans Bett, ließ die Lider sinken und konzentrierte sich darauf, nicht einzudösen. Wie sollte sie angesichts des bevorstehenden verzweifelten Fluchtversuchs auch schlafen?
Aber es war zu angenehm, ein wenig die Augen zu schließen. Es dauerte nicht lange, da hatten das stille Haus, der dunkle Raum, der ereignisreiche Tag und die späte Stunde sich alle gegen sie verschworen, und Kendra nickte ein.
Sie wurde durch ein Knirschen und Krachen geweckt, das sich wie splitterndes, grünes Holz anhörte. Der Stechbulbus war jetzt größer als Kendra. Finger waren durch die violette Hülse der Frucht gebrochen und schälten sie weg.
Kendra kroch zu der überdimensionalen Frucht hinüber und half, so leise sie konnte, das Loch zu vergrößern, aber schon bald ließ sie davon ab und sah einfach zu, wie sich eine perfekte Kopie ihrer selbst aus der faserigen Hülse wand. Das Duplikat trug sogar die gleichen Kleider, wie Kendra!
»Ich bin Kendra«, informierte Kendra den Neuankömmling.
»Ich kann dich nicht sehen«, sagte die Kopie.
»Kannst du nicht in der Dunkelheit sehen?«
Die Kopie zögerte kurz, bevor sie antwortete. »Nein. Ich sollte es eigentlich können. Ich kann mich daran erinnern, im Dunkeln sehen zu können. Aber es klappt nicht.«
»Offenbar sind meine
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