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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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geschafft, die ganze Zeit über zuzuhören, und das schien mir ein gutes Zeichen. Zum ersten Mal hatte ich etwas über Geschichte gelernt, ohne dabei vor Langeweile einzuschlafen. Das hatte ich Edmunds Erzählkunst zu verdanken.
    Â» Vielen Dank«, sagte ich. » Das war eindeutig interessanter als in der Schule.« Trotzdem hatte ich eine Frage. » Mrs. James sagte, die Stolzseuche hätte mit der Entstehung der… Stummies zu tun.« In meinen Gedanken hießen sie immer noch Freaks. » Stimmt das?«
    Â» So glauben die meisten«, antwortete Edmund mit einem Nicken. » Ob es stimmt, weiß ich nicht.«
    Â» Wir sollten jetzt nach oben gehen«, mischte sich Oma Oaks ein und warf Edmund einen Blick zu.
    Edmund neigte den Kopf und erhob sich. » Wir werden euch beide jetzt allein lassen, damit ihr in Ruhe miteinander reden könnt. Aber bleibt nicht zu lange auf.«
    Die Decke über unseren Köpfen knarrte, während die beiden sich bereit fürs Bett machten. Es war ein heimeliges Geräusch, denn es erinnerte mich daran, dass ich nicht allein war. So unglaublich es auch schien, ich hatte jetzt eine Familie. Unten hätten nur Stein und Fingerhut überhaupt bemerkt, wenn ich eines Tages nicht mehr von einer Patrouille zurückgekehrt wäre. Aber selbst sie hätten nicht lange um mich getrauert. Der Tod war in der Enklave viel zu alltäglich.
    Â» Ich mag sie«, sagte Bleich leise und zog mich näher an sich heran, wie er es früher ein paar Mal getan hatte, um mich zu trösten. Diesmal jedoch war der Grund ein anderer, und das gefiel mir.
    Ich schmiegte mich an ihn, genoss die Berührung seiner Haut, spürte die Wärme, die mich durchströmte und allen Schmerz von mir nahm.
    Â» Sie sind sehr gütig zu mir.« Ich dachte über das nach, was Edmund uns erzählt hatte. » Glaubst du, an der Geschichte ist was Wahres dran?«
    Â» Was genau meinst du?«
    Â» Dass es eine Strafe ist, wie die Welt jetzt aussieht.«
    Er schüttelte den Kopf. » Mein Vater hat nie etwas in der Art erzählt, und das meiste, was er sagte, hat sich als richtig herausgestellt. Ich glaube, die Welt ist einfach so geworden.«
    Â» Aber warum sollten sie sich das alles ausdenken?«
    Bleich lehnte den Kopf gegen meinen, und seine Wange berührte mein Haar. Ich war froh, dass ich die Zöpfe geöffnet hatte und er spüren konnte, wie weich es war– wenn auch nicht so fein säuberlich gekämmt wie bei den anderen Mädchen.
    Â» Die Menschen versuchen immer, sich die Dinge zu erklären«, sagte er schließlich, » und wenn sie keine Erklärung haben, dann denken sie sich eine aus. Für manche ist eine falsche Erklärung immer noch besser als gar keine.«
    Das klang überzeugend. Es war genau das, was ich mir schon länger über den Worthüter gedacht hatte. » Wahrscheinlich hast du recht. Trotzdem ist mir die Wahrheit lieber, selbst wenn sie unsicher ist.«
    Â» Du kannst die Unsicherheit ertragen, weil du tapfer bist, eine starke Seele.«
    Â» Du nicht auch?«, fragte ich.
    Â» Ich versuch’s.«
    Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet, aber Bleichs Hände lenkten mich ab: Er zog meinen Kopf an sich heran und küsste mich. Sein Mund schmeckte süßlich wegen des Apfelweins, den er zum Abendessen getrunken hatte, verführerisch und zart, und seine Lippen glühten beinahe. Wir küssten uns wieder und wieder, er presste mich an sich, ich streichelte sein Gesicht, befühlte seinen Kiefer und fuhr durch sein Haar. Seidig und kühl glitt es zwischen meinen Fingern hindurch. Mein Blut wurde immer heißer. Ich konnte mich kaum noch beherrschen, und am liebsten wäre ich auf ihn draufgeklettert.
    Als Bleich sich losmachte, zitterte er am ganzen Körper, als hätte er Fieber. Ich legte ihm besorgt eine Hand auf die Stirn, doch er lachte nur. » Ich bin nicht krank, Zwei. Anscheinend weißt du nicht, wie attraktiv du bist.«
    Ich, attraktiv? Bestimmt nicht. Bestimmt ist es das Kleid .
    Mir war so schwindlig, dass ich mich fast dafür schämte. Wie eine schnurrende Katze presste ich mich gegen seine Hände auf meinem Rücken. Am liebsten wäre ich in ihn hineingekrochen. Beinahe schon aus Selbstschutz riss ich mich unvermittelt los. Ich konnte an Bleichs Gesicht sehen, dass er mich verstand. Er streichelte meine Fingerkuppen, um das Feuer nicht erkalten zu

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