Die Zuflucht
wünschte, ich könnte in ihre Köpfe schauen.
Bleich stand auf. » Ich muss jetzt gehen. Deine Pflegeeltern haben uns etwas Zeit allein gegeben. Sie scheinen mir zu vertrauen, und ich möchte ihnen keinen Grund geben, es sich anders zu überlegen.«
» Gute Nacht, Bleich.« Ich richtete mich auf und küsste ihn, bevor er gehen konnte. Der Abschied zog sich weit länger hin, als ich gedacht hatte, und schlieÃlich riss Bleich sich mit einiger Anstrengung los.
Keuchend stand er da, die Hände zu Fäusten geballt, als würde er sich verbieten, mich erneut zu berühren. » Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich möchte nicht, dass sie mich das letzte Mal in ihr Haus eingeladen haben.«
Nachdem er weg war, kroch ich in mein Bett, aber die Schuldgefühle, die mich wegen Pirscher plagten, lieÃen mich nicht schlafen. Ständig rechnete ich damit, dass es an meinem Fenster klopfte, und schlieÃlich entriegelte ich es. Pirscher hatte eine Erklärung verdient. Ich durfte nicht länger so feige sein.
Eine halbe Stunde später landete er lautlos auf dem Sims und kletterte herein. Die Kerzen, die ich angezündet hatte, lieÃen lange Schatten durch das Zimmer tanzen. In ihrem Lichtschein sah ich, dass Pirschers Wut einer stummen Verwirrung gewichen war.
Er trat keinen Schritt näher und blieb am Fenster stehen. » Ich bin nur gekommen, weil ich es verstehen will. Warst du einsam? Hast du mich benutzt?«
» Nein. Du warst mein Freund⦠und mein Sparringspartner. Das warst du schon lange, und du bist es immer noch.«
» So hat es aber nicht ausgesehen«, knurrte er. » Du hast dich benommen, als könnte eines Tages mehr draus werden.«
» Das tut mir leid.«
» Und mir tut es weh«, erwiderte Pirscher verwundert, als hätte er das Gefühl bisher nicht gekannt.
» Das wollte ich nicht.«
Sein Lachen klang verbittert. » Dann kann ich dir ja wohl keinen Vorwurf machen, oder?« Er kletterte zurück aufs Sims, als wäre er fertig mit dem Gesprächâ und mit mirâ, und drehte sich noch einmal um. » Du wirst nicht glücklich mit ihm werden, Taube. Er ist viel weicher als du und ich. Irgendwann wirst du ihn zerbrechen.«
Ich wälzte mich ruhelos im Bett herum und hörte immer wieder diese letzten Worte. Tief in meinem Innern fürchtete ich, Pirscher könnte recht behalten.
BIGWATER
Eine Woche später kam Tegan mich besuchen. Ich war froh über die Abwechslung, denn ich verbrachte fast meine gesamte Zeit damit, mit Oma Oaks Kleider zu flicken.
Von uns dreien hatte Tegan sich am meisten verändert. Sie war nie so blass wie ich oder Bleich gewesen, und ihre Haut war von Natur aus dunkler als die von Pirscher. Jetzt, nach mehreren Monaten in Erlösung, schimmerte sie wie Kupfer, was ihre dunklen Locken gut zur Geltung brachte. Tegan hatte sie zu einer raffinierten Frisur aufgetürmt, die ich selbst nie hinkriegen würde. Dazu trug sie ein gelbes Kleid, das Mrs. Tuttle eigens für sie hatte machen lassen.
Ich vermisste Tegan und fragte mich, ob sie unsere Freundschaft vielleicht wieder aufnehmen wollte. Seit sich mein Verhältnis zu Bleich und Pirscher so grundlegend verändert hatte, konnte ich über bestimmte Dinge nicht mehr mit ihnen reden.
Mit der Erlaubnis meiner Pflegemutter holten wir uns etwas zu trinken und gingen dann nach drauÃen zu der Schaukel. Ein paar Minuten lang war das Quietschen der Ketten das einzige Geräusch. In der Ferne hörte ich, wie ein paar Männer miteinander stritten, aber es schien nichts wirklich Ernstes zu sein. Kinder lachten. Schon die Grundstimmung in Erlösung war so vollkommen anders als in College. Unten war alles knapp, auch die Zeit zum Reden. Hier unterhielten sich die Leute einfach so miteinander, tauschten Neuigkeiten aus oder den letzten Klatsch und mussten nicht befürchten, dabei belauscht zu werden.
» Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, als ichâ¦Â« Tegan sprach nicht weiter, denn sie wusste, ich würde auch so verstehen, was sie meinte. » Ich musste über so vieles nachdenken. Anfangs hatte ich Probleme mit meinem Bein, und als es allmählich besser wurde, kam die Schule. Ich wollte einfach dazugehören, undâ¦Â«
» Ich nicht.«
» Du lebst nach deinen eigenen Regeln. Das respektiere ich, aber ich bin nicht wie du. Ich will, dass die Leute mich mögen. Es gefällt mir
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