Die Zuflucht
es nicht einmal versuchenâ¦Â« Oma Oaks verachtete ihre Feigheit, und in dem Moment wusste ich, wenn ich verloren gehen sollte, würde sie mich suchen. Ich schwor mir, sie nie in diese Lage zu bringen.
» Er ist ganz allein rausgegangen?« Wie von selbst stiegen die Bilder in mir auf. Ich sah einen tapferen jungen Mann, der erledigte, wozu die anderen nicht imstande waren, der für ein Kind sein Leben riskierte, das nicht einmal sein eigenes war. Ich hatte ihn nicht gekannt, aber ich spürte trotzdem Tränen in den Augen.
» Noch vor Sonnenaufgang, ja. Ich blieb bei Kerzenschein wach und wartete auf ihn.«
Das Bild von Oma Oaksâ einsamer Nachtwache brach mir das Herz. Ich wusste bereits, wie die Geschichte endete. » Hat er sie gefunden?«
Sie seufzte schwer. » Mit ihr auf den Armen kam er ans Tor gewankt. Er blutete so stark, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie er es vom Wald bis hierher geschafft hatte.«
» Und er starb«, flüsterte ich.
» An seinen Verletzungen, ja. Es dauerte drei Tage, aber es gab keine Rettung mehr für ihn. Sein ganzer Körper hing in Fetzen.«
» Aber die Wunden waren nicht von Tierenâ¦Â«
Hass flammte in ihren sonst so gütigen Augen auf. » Nein. Sie waren es. Die Stummies. Sie haben versucht, sich das Mädchen zu holen, und Daniel hat die Kleine gerettet. Stadtvorsteher Bigwater hielt eine Rede zu seinen Ehren, aber«â sie unterdrückte ein Schluchzenâ » das gibt ihn mir auch nicht zurück.«
Ich wünschte, ich hätte sie nie danach gefragt, denn jetzt verstand ich, wie schwierig es für sie sein musste zu sehen, wie ich zum Vorposten zurückkehrte. Es musste ihr vorkommen, als würde sie das alles noch einmal durchleben. Zum ersten Mal begriff ich, wie stark meine Handlungen sich auf andere auswirken konnten, selbst wenn ich nur die besten Absichten verfolgte.
» Es tut mir leid«, sagte ich sanft. Und damit meinte ich nicht nur Daniels Schicksal, sondern auch das, was sie wegen mir ertragen musste: den wiederaufflammenden Schmerz und die erneute Sorge um ein Mitglied ihrer Familie.
» Das muss es nicht. Was du tust, ist eine wichtige Aufgabe. Und daran werde ich mich erinnern, wenn ich im Winter für uns alle koche. Ganz sicher.« Ihre Worte sollten mich beruhigen, aber sie konnten die sorgenvollen Falten um ihren Mund nicht vertreiben.
Wir verabschiedeten uns still und in gedrückter Stimmung, denn wir wussten, es würde eine ganze Zeit dauern, bis wir einander wiedersahen. Wenn überhaupt. Doch Oma Oaks lieà sich nichts anmerken und winkte uns mit einem warmen Lächeln hinterher, nachdem wir gegangen waren.
» Habt ihr mitgehört?«, fragte ich Bleich.
» Das Haus ist klein.«
» Denkst du, ich hätte bleiben sollen?«
Er schüttelte den Kopf. » Du kannst dein Leben nicht für andere leben. Aber ich habe noch nie einen Mann so weinen sehen.«
Die Worte trafen mich bis ins Mark. Ich stellte mir Edmund vor, wie er oben auf dem Treppenabsatz stand und ein weiteres Mal die Geschichte ihres grausamen Verlusts hörte, während ihm die Tränen über das faltige Gesicht strömten. Es konnte gefährlich sein, wenn man jemanden zu sehr liebte, auch das wusste ich jetzt. Aber die Alternative war kein bisschen besser.
Bleich ging voraus, als wir uns am Sammelplatz mit den Pflanzern trafen. Tegan hüpfte auf und ab und winkte uns zu, aber ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, denn drauÃen hörte ich bereits Draufgängers Stimme. Er war mit den restlichen Patrouillenmitgliedern ans Tor gekommen, um die Pflanzer zu den Feldern zu eskortieren. Wir würden mit ihnen gehen, damit Pirscher und Hobbs ihren Erholungsurlaub antreten konnten. Nach einem kurzen Wortwechsel öffneten die Wächter das Tor, und wir marschierten hinaus in den nassen, grauen Tag.
Der Regen lieà die Gesichter um mich herum aussehen, als würden alle Daniels Tod beweinen. Natürlich war ich aufgewühlt von Oma Oaksâ Geschichte, aber ich hatte offensichtlich zu lange nach den Regeln des Mädchens in mir gelebt. Für Zwei, die Jägerin, galten andere. Ich reihte mich ein, und das vertraute Gewicht der Messer an meinen Oberschenkeln gab mir das Gefühl, wieder ich selbst zu sein. Denn ich war eine Kämpferin, auch wenn Mondschein und Musik mich dazu bringen konnten, eine andere zu sein, auch wenn die Liebe
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