Die Zunge Europas
wieder allein lasst.»
«Sonntag bleib ich länger, versprochen.»
«Schön, dass ihr da wart.»
Wir gingen schweigend zur U-Bahn . Kein Wort, keinen Mucks, keinen Pieps, es gab nichts zu reden. Den Rekord in Sprachlosigkeit hatten wir aufgestellt, als wir nach einem Kinobesuch bis zum Schlafengehen kein Wort miteinander geredet hatten. Wie fandest du den Film, wollen wir noch ’ne Kleinigkeit essen, wie geht’s, wie steht’s? Nichts. Zähne putzen, Licht aus, Feierabend.
Wir standen auf dem Bahnsteig, stumm den Blick auf die Anzeigetafel gerichtet. Noch zwei endlose Minuten. Ich dachte an mein Vorhaben: «Die Zunge Europas». Vielleicht war der Titel zu eklig oder würde falsch verstanden werden (pornographische Konnotation). Alternativen: «Orangenhain». «Fischvogel». «Die Kürbisverheißung». Ohne Artikel. Einfach nur: «Kürbisverheißung». Oder: «Raumforderung». Ein metastasierender Text. Gab’s leider schon, habe ich bei Amazon nachgeschaut, 2007, Thomas Melle, Suhrkamp. Oder was in der Art von Onkel Friedrich: «Entweder sahnig oder gar nicht». Guter Titel für ein Kochbuch. Erst Sahne macht die Soße rund. Was Kritisches: «Kindschrottmeile», «Kindschutt», «Schuttkind». Na, egal, eins nach dem anderen, erst mal anfangen.
Noch eine Minute.
Ich stellte mir vor, wie es gleich weitergehen würde,und mir wurde schrecklich elend zumute. Das war mehr, als ich heute noch ertragen konnte.
«Mir ist irgendwie schlecht, ich glaub, ich muss mich mal hinlegen. Wär es schlimm, wenn ich heute mal allein nach Hause fahr?»
«Echt, dir ist schlecht? Musst du dich übergeben?»
«Weiß nicht, kann ich noch nicht sagen.»
«Hast du irgendwas gegessen? Vielleicht den Bienenstich?»
Steilvorlage. Da war ich gar nicht drauf gekommen, bei Bienenstich kann man sich gut vorstellen, dass er schnell verdirbt, Stichwort Stich.
«Ja, du nicht?»
«Nee, nur Preiselbeertorte.»
«Ach so. Dann liegt’s wohl daran.»
«Wann sehen wir uns? Freitag?»
«Nee, Freitag muss ich mich mit Sven treffen, der kann nur da. Ich würd sagen Samstag.»
«Ach so, wir können ja nochmal telefonieren. Dann gute Besserung.»
«Ja, danke.»
«Und wenn noch was ist, kannst du ja anrufen.»
«Mhm. Mach ich.»
Meine Bahn fuhr zuerst ein. Zum Abschied fasste ich ihr mit Daumen und Zeigefinger an die Schulter und drückte ein paarmal herum. Kein Streicheln, kein Massieren, kein Tätscheln, einfach nur Rumdrücken. Eine hilflosere Geste hatte es wohl auf der ganzen Welt noch nicht gegeben. Sie durchschaute es, und ich durchschaute es, und für einen Moment war alles klar. Jetzt, genau jetztund hier, wäre der passende Zeitpunkt gekommen. Ich zog meine Hand zurück.
«Also.»
«Bis später.»
Zu Hause angekommen, packte ich ein paar Halbe und die Pferdedecke ein und ging in den Stadtpark, auf die große Wiese. Ich musste unbedingt mit der Großmutter reden, es gab so viel, was ich wissen wollte. Wissen musste. Von meinen Eltern, warum alles so gekommen war, es war mit einem Mal, als würden mir lebensnotwendige Informationen fehlen, Basiswissen. Die Jahre verstreichen, und nie wird über das Wesentliche gesprochen. Man glaubt, noch so viel Zeit zu haben, und irgendwann ist es zu spät.
Direkt neben mir bereiteten drei junge Männer eine Grillsession vor. Sie sahen aus, als kämen sie gerade von einem MTV- oder Werbe- oder Sonstwiewasgeilescasting: volle Haare, volle Lippen, klare Augen, feste Nägel, reine Haut, perfekte Körper, selbstverständliche Gesamterscheinung. Im Sommer Skaten oder Surfen, im Winter Snowboarden, danach Aprèsirgendwas. Hüttenzauber. Arbeiten? Fehlanzeige. Nachdem sie mit den Vorbereitungen fertig waren, zog der Geilste sein T-Shirt aus, stopfte es sich in den Gürtel und steckte sich eine Zigarette an. Das alles sah beneidenswert lässig aus. Wie machte der das nur? Antwort: Instinktive Überlegenheit. Er war nicht eine Spur bedürftig und konnte es sich leisten, einfach nur er selbst zu sein. Die Art, wie er sich auszog, wie wenig Aufsehen er um seinen Spitzenkörper machte, wie er rauchte und Bier trank, gelegentlich auf sein Handy blickte, sichmit den Fingern durch die halblangen Haare fuhr und desinteressiert in der Gegend herumschaute. So einer wird nie notgeil, der hat in seinem Leben noch nicht gewichst. Wahrscheinlich war er gar nichts. Dumm, arm, humorlos, und zum VJ reichte es auch nicht, in spätestens zehn Jahren ist nichts mehr übrig von dem. Vielleicht hatte ich sogar
Weitere Kostenlose Bücher