Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Jahrzehnte später waren wir angekommen in der demokratischen Staatengemeinschaft. Wir waren stolz, uns patriotisch verhalten zu dürfen, uns über die Leistung unserer eigenen Mannschaft zu freuen, aber wir respektierten auch, wenn ein anderer besser war oder auch nur etwas mehr Glück hatte. In den Stadien herrschte eine freudvolle und leidenschaftliche Atmosphäre. Die Fanmeilen waren überfüllt mit begeisterten Menschen, in jedem Garten wurden Feste gefeiert. Mit jedem Spiel schwanden die Zweifel am Gelingen, und dann spielte auch noch unsere Mannschaft besser, als es selbst Optimisten erwartet hätten.
Insgesamt war die Vorfreude im Land eher gedämpft gewesen; das hing nicht zuletzt mit der sportlichen Erwartungshaltung zusammen. Angesichts der Stärke unserer heutigen Nationalelf können wir die damalige Skepsis gar nicht mehr nachempfinden. Zwar hatten wir beim Confederations Cup mit Platz drei gut abgeschnitten und erstmals das Gefühl entwickelt, mit den Besten mithalten zu können, doch vor allem das Debakel von Florenz mit dem 1:4 gegen Italien hatte die Schwarzmaler bestärkt, die ein sang- und klangloses Ausscheiden unserer Mannschaft für wahrscheinlich hielten.
Dass die ganz große Fußball-Euphorie bei den Gastgebern fehlte, war für den Verlauf des Turniers sogar von Vorteil. Zum einen konnte sich die Stimmung allmählich steigern, zum anderen wurde sichtbar, dass die gesamte Gesellschaft an diesem Fußballfest Anteil nahm und mitfeiern wollte, nicht nur die eingeschworenen Fans. Alle spürten, hier ging es nicht nur um Fußball, hier war mehr zu erwarten, und die Leute wollten dabei sein. Auch bei den Spielen ohne deutsche Beteiligung waren die Stadien gut gefüllt und die Atmosphäre großartig, die WM wurde nicht nur zu einem sportlichen, sondern auch zu einem völkerverbindenden Ereignis.
Auch wenn die Fans der deutschen Mannschaft ihre sportlichen Erwartungen zurückgeschraubt hatten, wurde doch schnell klar, dass zu Pessimismus kein Anlass bestand. Jürgen Klinsmann und Joachim Löw hatten ihre Spieler hervorragend vorbereitet. Sie holten aus einer Mannschaft, die nach den Ereignissen der vergangenen Jahre nicht zu den Favoriten zählen konnte, alles heraus, was möglich war. Sie formten ein geschlossenes Team, das auch vom Kopf her bestens vorbereitet war. In dem ebenso jeder wusste, dass er hundert Prozent und mehr geben musste, sich aber in die Gemeinschaft einzuordnen hatte. Das war das Verdienst des Trainerteams um Klinsmann, das aus Spielern, die nicht das Attribut Weltklasse trugen, eine starke Mannschaft geformt hatte.
Schon das Eröffnungsspiel in München ließ den Funken überspringen. Auch wenn Costa Rica kein Gegner war, vor dem man sich fürchten musste, so spürten die Fans im Stadion und die Millionen Menschen an den Fernsehschirmen, dass diese deutsche Mannschaft den Rumpelfußball der Jahre 2000 bis 2004 hinter sich gelassen hat. Oliver Neuvilles Siegtor in letzter Sekunde gegen die Polen fachte die Euphorie zusätzlich an; eine jener Szenen, die jedem Fan noch jahrelang im Gedächtnis bleiben und die den Verlauf eines Turnier entscheidend prägen können. Plötzlich war jedem klar: Wir sind dabei, wir spielen mit und sind nicht nur bescheidener Gastgeber. Nach der Vorrunde kamen die K. o.-Spiele, und die deutsche Mannschaft wurde von einer vorher unvorstellbaren Woge der Begeisterung getragen. Es passte alles zusammen.
Die Euphorie erfasste das Organisationsteam, obwohl wir auch während des Turniers mehr als genug zu tun hatten. Angefangen bei Franz Beckenbauer, der sich zum Ziel gesetzt hatte, so viele Spiele wie möglich live im Stadion zu sehen, und deshalb ständig mit seinem Hubschrauber unterwegs war. Am Ende hat er es geschafft, tatsächlich bei 48 der insgesamt 64 WM -Spiele auf der Tribüne zu sitzen – mehr ging nicht, da ja manche Partien gleichzeitig stattfanden.
Auch wenn er hoch in der Luft mit dem Verkehrschaos nichts zu tun hatte, das an manchen Spielorten entstand, sollte man nicht glauben, dass Beckenbauer sich ein entspanntes Stadion-Hopping gönnte. Ich hatte zweimal das zweifelhafte Vergnügen, ihn in seinem Helikopter zu begleiten. Da drin war es eng und laut, die gleißende Sonne stand auf den Scheiben – ich war froh, als ich wieder Boden unter den Füßen hatte und gesunde Luft atmete.
Kein anderer DFB -Vertreter hat Beckenbauers Pensum auch nur annähernd erreichen können. Aber auch ich war mindestens einmal in jedem WM -Stadion dabei
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