Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Vergangenheit nicht zu fürchten, und jeder muss seine Geschichte kennen. Ich frage mich dauernd, warum mir meine Eltern einen Teil meines Lebens verheimlicht haben. Würden Sie es an meiner Stelle nicht wissen wollen?«
»Und wenn sie ihre Gründe gehabt hätten, um Sie zu schützen?«
»Schützen vor was?«
»Vor schlechten Erinnerungen?«
»Ich war fünf Jahre alt und habe überhaupt keine. Außerdem ist nichts schlimmer als die Unwissenheit. Wenn ich die Wahrheit wüsste, wie auch immer sie aussehen mag, würde ich mich damit abfinden.«
»Ich vermute, die Rückreise auf dem Schiff war furchtbar und Ihre Mutter hat dem Himmel gedankt, dass Sie sich an all das nicht mehr erinnern. Das ist wahrscheinlich der Grund für ihr Schweigen.«
»Das nehme ich auch an, Can, aber es ist nur eine Vermutung, und um ehrlich zu sein, wünsche ich mir so sehr, dass man mir von ihnen erzählt, selbst wenn es nur Banalitäten sind. Wie sie angezogen war, was sie mir morgens gesagt hat, ehe ich zur Schule ging, wie unser Leben in der Wohnung des Rumeli Palas verlief, was wir sonntags gemacht haben … Das wäre eine Art, sie wieder zum Leben zu erwecken, und sei es nur für die Dauer des Gesprächs. Es ist so schwer, Trauerarbeit zu leisten, wenn man sich nicht verabschieden konnte … Sie fehlen mir noch immer so wie am Tag nach ihrem Tod.«
»Morgen gehen Sie nicht zu dem Parfümeur nach Cihangir, sondern ich bringe Sie zu Misses Yilmaz, aber kein Wort zu meiner Tante, das müssen Sie mir versprechen«, sagte Can, als sie vor Alices Haus angekommen waren.
Sie musterte ihn aufmerksam. »Gibt es jemanden in Ihrem Leben, Can?«
»Es gibt viele Menschen in meinem Leben, Miss Alice. Freunde und eine große Familie – fast zu groß für meinen Geschmack.«
»Ich meine jemanden, den Sie lieben?«
»Wenn Sie wissen wollen, ob ich eine Frau in meinem Herzen trage, kann ich Ihnen sagen, dass alle hübschen Mädchen von Üsküdar dort täglich zu Besuch sind. Es kostet mich nichts und tut niemandem weh, in aller Stille zu lieben, nicht wahr? Und Sie, lieben Sie jemanden?«
»Die Frage habe ich Ihnen gestellt.«
»Was hat meine Tante Ihnen erzählt? Sie würde sonst was erfinden, damit ich aufhöre, Ihnen bei Ihrer Suche zu helfen. Sie ist so verbohrt, wenn sie eine Idee im Kopf hat, dass sie in der Lage wäre, Ihnen weiszumachen, ich wolle Sie heiraten, aber keine Sorge, ich habe nicht die Absicht.«
Alice ergriff Cans Hand. »Ich schwöre Ihnen, dass ich ihr nicht eine Sekunde geglaubt habe.«
»Das dürfen Sie nicht tun«, sagte Can und zog seine Hand zurück.
»Es war nur eine freundschaftliche Geste.«
»Vielleicht, aber Freundschaft ist nie ganz unschuldig zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts.«
»Da bin ich anderer Meinung. Mein bester Freund ist ein Mann, den ich von Jugend auf kenne.«
»Fehlt er Ihnen nicht?«
»Doch, natürlich, ich schreibe ihm jede Woche.«
»Und antwortet er auf Ihre Briefe?«
»Nein, aber er hat eine gute Entschuldigung, ich schicke die meinen nicht ab.«
Can lächelte Alice an. »Und haben Sie sich nie gefragt, warum Sie diese Briefe nicht abschicken? … Aber ich glaube, es ist Zeit, dass ich gehe, es ist schon spät.«
Lieber Daldry,
Mein Herz ist in Aufruhr, während ich diese Zeilen zu Papier bringe. Ich glaube, ich bin am Ziel meiner Reise angelangt, und doch schreibe ich Ihnen heute Abend, um Ihnen zu sagen, dass ich nicht heimkehren werde, zumindest nicht in nächster Zeit. Wenn Sie die folgenden Zeilen lesen, werden Sie verstehen, warum.
Gestern Morgen habe ich meine ehemalige Kinderfrau getroffen. Can hat mich zu Misses Yilmaz gebracht. Sie wohnt in einem Haus am Ende einer steilen Gasse, die erst vor Kurzem gepflastert wurde. Ich muss Ihnen auch sagen, dass sich am Ende dieser kleinen Straße eine Treppe befindet …
Wie jeden Tag hatten sie Üsküdar früh verlassen, doch wie Can versprochen hatte, waren sie zum Bahnhof Haydarpasa gegangen. Der Zug fuhr um halb zehn. Die Nase an die Fensterscheibe des Abteils gedrückt, hatte sich Alice gefragt, wie ihre Kinderfrau wohl aussehen mochte und ob sie irgendwelche Erinnerungen bei ihr wecken würde. Als sie eine Stunde später Izmit erreichten, nahmen sie ein Taxi und fuhren in das auf einem Hügel gelegene älteste Viertel der Stadt.
Das Haus von Misses Yilmaz war noch betagter als seine Besitzerin. Der Holzbau neigte sich eigenartig zur Seite und erweckte den Anschein, als würde er bei der geringsten
Weitere Kostenlose Bücher