Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
angesichts Alices verblüffter Miene fügte er hinzu: »Ihre Kinderfrau … Ich weiß, wo sie wohnt.«
»Wie haben Sie das angestellt?«
»Can ist noch immer der beste Führer von Istanbul – und zwar auf beiden Seiten des Bosporus. Seit schon fast einem Monat höre ich mich hier und da um. Ich war überall in Üsküdar unterwegs und habe schließlich jemanden gefunden, der sie kannte. Ich habe es Ihnen ja gesagt, Üsküdar ist ein Ort, wo jeder jeden kennt, oder besser gesagt ein Ort, an dem jeder jemanden kennt, der jemand anderen kennt … Üsküdar ist ein kleines Dorf.«
»Wann können wir sie besuchen?«, fragte Alice aufgeregt.
»Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, aber Mama Can darf nichts davon erfahren!«
»Wieso, was geht sie das an? Und warum wollte sie nicht, dass Sie mir davon erzählen?«
»Weil meine Tante zu allem ihre eigene Theorie hat. Sie behauptet, die Dinge der Vergangenheit müssten in der Vergangenheit bleiben, und es sei nicht gut, an alte Geschichten zu rühren. Man dürfe nicht ausgraben, was die Zeit verschüttet habe. Sie behauptet, es wäre nicht gut für Sie, wenn ich Sie zu Misses Yilmaz bringen würde.«
»Aber warum?«, wollte Alice wissen.
»Das weiß ich nicht, doch vielleicht werden wir es erfahren, wenn wir trotzdem hingehen. Und jetzt müssen Sie mir versprechen, dass Sie geduldig abwarten werden, ohne etwas zu sagen, bis ich diesen Besuch vorbereitet habe.«
Das tat Alice, und Can bat sie inständig, sich von ihm nach Hause bringen zu lassen, solange er noch in der Lage dazu sei. Bei der Anzahl von Raki, die er bei diesem Geständnis getrunken habe, sei es unabdingbar, sich unverzüglich auf den Weg zu machen.
Als Alice am nächsten Abend von dem Parfümeur von Cihangir zurückkam, ging sie rasch zu Hause vorbei, um sich umzuziehen, ehe sie um sieben ihre Arbeit im Restaurant begann.
Das Leben bei Mama Can schien wieder seinen normalen Lauf zu nehmen. Der Koch-Ehemann machte sich am Herd zu schaffen und brüllte wie eh und je, sobald ein Gericht fertig war. Mama Can überwachte das Lokal von ihrer Registrierkasse aus, die sie nur verließ, um einige Stammgäste zu begrüßen und mit einem Blick auf den Tisch zu deuten, der ihnen, je nach Wichtigkeit, zukam. Alice nahm die Bestellungen auf und lief zwischen Küche und Gästen hin und her, und auch der Küchenjunge tat sein Bestes.
Gegen neun Uhr – das war die »heiße Zeit« – verließ Mama Can seufzend ihren Hocker, um ihnen zu helfen.
Heimlich beobachtete sie Alice, die sich nach Kräften bemühte, sich nicht anmerken zu lassen, dass Can ihr das Geheimnis anvertraut hatte.
Als die letzten Gäste gegangen waren, schloss Mama Can die Tür ab, zog sich einen Stuhl heran und nahm an einem Tisch Platz, ohne Alice aus den Augen zu lassen. Diese deckte, wie jeden Abend, bereits für den nächsten Tag. Als sie die Decke von dem Tisch neben Mama Can abnahm, griff diese nach dem Tuch, mit dem Alice die Holzplatte wienerte, und nahm ihre Hand.
»Geh und mach uns etwas Tee, dann komm wieder zu mir.«
Die Vorstellung, sich ein wenig auszuruhen, missfiel Alice nicht. Sie ging in die Küche und kam kurz darauf mit zwei Gläsern zurück. Mama Can befahl dem Küchenjungen, die Durchreiche zu schließen, Alice stellte ihr Tablett ab und nahm Cans Tante gegenüber Platz.
»Bist du glücklich hier?«, fragte die Wirtin, während sie den Tee einschenkte.
»Ja«, antwortete Alice überrascht.
»Du bist ein tüchtiges Mädchen«, fuhr Mama Can fort, »ganz so wie ich in deinem Alter, die Arbeit hat mir nie Angst gemacht. Zwischen dir und unserer Familie besteht eine merkwürdige Verbindung, findest du nicht?«
»Welche Verbindung?«, fragte Alice.
»Tagsüber arbeitet mein Neffe für dich, und abends arbeitest du für seine Tante. Das ist fast ein Familiengeschäft.«
»So habe ich das noch gar nicht bedacht.«
»Weißt du, mein Mann sagt nicht viel, er behauptet, ich würde ihm keine Zeit dafür lassen, weil ich für zwei reden würde. Aber er mag und schätzt dich sehr.«
»Das berührt mich ungemein, auch ich habe Sie alle sehr gern.«
»Und gefällt dir das Zimmer, das ich dir vermiete?«
»Ja, ich genieße die Ruhe und den herrlichen Blick. Außerdem schlafe ich dort sehr gut.«
»Und Can?«
»Wie bitte?«
»Hast du meine Frage nicht verstanden?«
»Can ist ein hervorragender Führer, sicher der beste von Istanbul, und im Laufe der Tage, in denen er mich begleitet hat, ist er auch mein Freund
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