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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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auf die breite Straße. Eine Trambahn näherte sich, und Daldry machte dem Fahrer heftige Zeichen, bis dieser anhielt. Er half Alice beim Einsteigen und drückte sie auf eine Bank. In dem Wagen kam Alice wieder zu sich. Die Fahrgäste wechselten einige Worte miteinander, ein alter Herr las seine Zeitung, drei junge Männer sangen im Chor. Der Fahrer betätigte seine Kurbel, und die Bahn ruckelte wieder los. Sie fuhr in Richtung Hotel. Alice sprach kein Wort und hielt den Blick starr auf den Rücken des Fahrers gerichtet, der durch eine blaue Scheibe von den Passagieren getrennt war.
    Als das Pera Palace in Sicht kam, legte Daldry seine Hand auf die Schulter von Alice, die heftig zusammenzuckte.
    »Wir sind da«, sagte er. »Wir müssen aussteigen.«
    Alice folgte Daldry. Sie überquerten die Straße und betraten das Hotel.
    Daldry begleitete Alice zu ihrer Zimmertür. Sie bedankte sich für das wundervolle Abendessen und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Sie wusste selbst nicht, was vorhin mit ihr geschehen war.
    »Es ist bedrückend, wenn man in wachem Zustand den Eindruck hat, einen Albtraum erneut zu durchleben«, sagte Daldry finster. »So dickköpfig Sie auch sein mögen, ich versuche morgen trotzdem, beim Konsulat etwas herauszufinden.«
    Er wünschte ihr eine gute Nacht und verschwand in seinem Zimmer.
    Alice ließ sich auf ihr Bett fallen. Eine gute Weile starrte sie an die Decke, dann sprang sie auf und lief zum Fenster. Die letzten Istanbuler eilten nach Hause, und die Nacht schien ihnen auf dem Fuß zu folgen. Nach dem abendlichen Nieselregen hatte jetzt ein kalter Wolkenbruch eingesetzt, der das Pflaster der Istiklal-Straße glänzen ließ. Alice zog den Vorhang zu und setzte sich an den kleinen Schreibtisch, um einen Brief zu beginnen.
    Anton,
    gestern habe ich aus Wien an Carol geschrieben, aber während ich diesen Brief verfasste, den ich schließlich verbrannt habe, waren meine Gedanken bei Dir. Ich bin nicht sicher, dass ich diesen abschicken werde, aber das ist nicht wichtig, ich muss mit Dir sprechen. Jetzt bin ich also in Istanbul in einem Luxushotel, wie weder Du noch ich es je gekannt haben. Du würdest wahnsinnig, wenn Du den kleinen Mahagonischreibtisch sehen könntest, an dem ich gerade sitze. Erinnerst Du Dich noch, wie wir als Jugendliche an den livrierten Portiers der großen Hotels vorbeikamen und Du den Arm um meine Taille legtest, als wären wir ein Prinzenpaar auf Auslandsbesuch? Diese unglaubliche Reise müsste mich glücklich machen, aber London fehlt mir und Du auch. Du bist mit Abstand mein bester Freund, selbst wenn ich mir manchmal Fragen über die Art dieser Freundschaft stelle.
    Ich weiß nicht wirklich, was ich hier mache, Anton, und auch nicht, warum ich diese Reise angetreten habe. In Wien habe ich gezögert, das andere Flugzeug zu besteigen, das mich noch mehr von meinem Leben entfernt hat.
    Doch seit meiner Ankunft hier habe ich ein seltsames Gefühl, das mich nicht mehr loslässt. Ich habe den Eindruck, diese Straßen schon gesehen zu haben, die Geräusche und die Stadt wiederzuerkennen, und was noch verwirrender ist, auch den Geruch nach lackiertem Holz in der Straßenbahn, mit der ich vorhin gefahren bin. Wenn Du hier wärst, könnte ich Dir all das anvertrauen, und das würde mich beruhigen. Aber Du bist weit weg. Ein Teil meiner selbst ist glücklich zu wissen, dass Carol Dich jetzt ganz für sich hat. Sie ist verrückt nach Dir, und Du alter Trottel hast es nicht bemerkt. Mach die Augen auf, sie ist ein wunderbares Mädchen, auch wenn ich sicher vor Eifersucht vergehen würde, wenn Ihr zusammen wäret. Ich weiß, dass Du sagen würdest, ich spinne, aber was soll’s, Anton, ich bin nun mal so. Meine Eltern fehlen mir ganz furchtbar, Waise zu sein ist ein Abgrund der Einsamkeit, aus dem ich mich nicht befreien kann. Ich schreibe Dir morgen oder vielleicht am Ende der Woche wieder. Ich werde Dir meine Tage schildern, und wer weiß, falls ich je einen dieser Briefe abschicke, wirst Du mir vielleicht auch antworten.
    Ich sende Dir zärtliche Grüße von meinem Fenster, das auf den Bosporus hinausgeht, den ich morgen bei hellem Tageslicht sehen werde.
    Pass auf Dich auf.
    Alice
    Alice faltete den Brief dreimal zusammen und legte ihn in die Schublade des kleinen Schreibtischs. Dann knipste sie das Licht aus, entkleidete sich, schlüpfte ins Bett und wartete auf den Schlaf.
    Eine fe ste Hand zieht sie vom Boden hoch. In dem Rock, in dem sie ihr Gesicht verbirgt, ahnt

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