Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
bequem machen könnte, falls der Alarm länger dauern sollte. Ich gehorchte. Als ich die Straße überquerte, schlug die erste Bombe so dicht neben mir ein, dass ich auf den Boden geschleudert wurde. Sobald ich wieder zu mir kam, wandte ich mich um und sah, dass unser Haus in Flammen stand. Nach dem Essen hatte ich ins Zimmer meiner Mutter gehen und sie umarmen wollen, aber ich habe es unterlassen, um sie nicht zu wecken. Ich habe sie nie wiedergesehen. Ich konnte mich nicht von ihnen verabschieden. Ich konnte sie nicht einmal beerdigen. Nachdem die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte, irrte ich durch die Trümmer. Doch es gab nichts mehr, nicht die geringste Erinnerung an unser Leben, an meine Kindheit. Danach bin ich zu meiner Tante auf die Insel Wight gegangen und dort bis zum Kriegsende geblieben. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich in der Lage war, wieder nach London zurückzukehren. Fast zwei Jahre. Ich lebte zurückgezogen auf meiner Insel, ich kannte dort jede Bucht, jeden Strand, jeden Hügel. Doch schließlich hat mich meine Tante aufgerüttelt und gedrängt, meine Freunde zu besuchen. Außer ihnen hatte ich niemanden mehr auf der Welt. Wir haben den Krieg gewonnen, ein neues Wohnhaus wurde errichtet, das die letzten Spuren des Dramas und der Existenz meiner Eltern tilgte – wie so vieler anderer auch. Die, die jetzt dort wohnen, wissen nichts davon, das Leben geht weiter.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, murmelte Daldry.
»Und was haben Sie während des Kriegs gemacht?«
»Ich habe in einer Verwaltungsbehörde der Armee gearbeitet. Wegen einer schlimmen Tuberkulose, die Spuren in der Lunge hinterlassen hatte, war ich nicht fronttauglich. Ich war wütend und verdächtigte meinen Vater, seinen Einfluss beim Militärarzt geltend gemacht zu haben, um mich für untauglich erklären zu lassen. Ich habe alles darangesetzt, trotzdem aufgenommen zu werden, und schließlich ab Mitte 1944 im Nachrichtendienst der Armee gearbeitet.«
»Sie waren trotzdem dabei«, sagte Alice.
»Ja, in den Büros, nicht eben ruhmreich. Aber wir sollten das Thema wechseln, ich will diesen Abend nicht verderben. Es ist meine Schuld, ich hätte nicht so indiskret sein dürfen.«
»Ich war die Erste, die indiskrete Fragen gestellt hat. Aber okay, sprechen wir über etwas Fröhlicheres. Wie heißt sie?«
»Wer?«
»Die, die Sie verlassen hat und derentwegen Sie gelitten haben.«
»Sie haben eine eigenartige Auffassung von Fröhlichkeit.«
»Warum so geheimnisvoll? War sie viel jünger als Sie? Nun erzählen Sie schon, war sie blond, brünett oder rothaarig?«
»Grün, sie war ganz grün mit großen Glupschaugen und riesigen behaarten Füßen. Darum kann ich sie auch nicht vergessen. Und wenn Sie mich weiter über sie ausfragen, bestelle ich mir noch einen Raki.«
»Bestellen Sie zwei, ich will mit Ihnen anstoßen!«
Es war spät, die Bar wurde geschlossen, und in der Umgebung des Tünel-Platzes war kein Taxi zu finden.
»Lassen Sie mich überlegen, es muss ja eine Lösung geben«, sagte Daldry, als das Licht hinter ihnen erlosch.
»Ich könnte auf den Händen nach Hause gehen, aber dabei würde sicher mein Kleid beschädigt«, sagte Alice und versuchte, ein Rad zu schlagen.
Daldry konnte sie gerade noch festhalten.
»Du meine Güte, Sie sind ja vollkommen betrunken.«
»Nun mal langsam, ich bin ein bisschen beschwipst, aber besoffen, das ist wirklich übertrieben.«
»Hören Sie, wie Sie reden? Das ist nicht mal mehr Ihre Stimme, man könnte meinen, sie wären eine Gemüsemarktfrau.«
»Gemüse verkaufen ist doch ein sehr schöner Beruf, zwei Gurken, eine Tomate und ein Frühling! Das wiege ich Ihnen ab, mein Herr, Sie bekommen es zum Großmarktpreis und noch dazu zehn Prozent Rabatt. Damit kann ich zwar kaum den Transport bezahlen, aber Sie sehen nett aus, und ich will zumachen«, sagte Alice in einem solchen Slang, dass man fast hätte meinen können, Cockney zu hören.
»Das wird ja immer besser, sie ist wirklich sturzbetrunken.«
»Sie ist überhaupt nicht betrunken, und bei dem, was Sie sich hinter die Binde gekippt haben, seit wir hier sind, sollten Sie lieber ganz still sein. Wo sind Sie überhaupt?«
»Direkt neben Ihnen … auf der anderen Seite!«
Alice wandte sich nach links.
»Ach so, da. Wollen wir am Fluss spazieren gehen?«, fragte sie und hielt sich an einem Laternenpfahl fest.
»Das wird nicht gehen, der Bosporus ist eine Meerenge und kein Fluss.«
»Umso besser, meine Füße tun weh. Wie
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