Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
beglückwünschen, finden Sie nicht, dass wir unsere Sache so gut gemacht haben?«
In der Nacht hatte sich der Nordwestwind erhoben, er hatte vom Balkan Schnee mitgebracht und der außergewöhnlichen Milde dieses Winters ein Ende bereitet.
Als Alice die Augen öffnete, waren die Gehsteige ebenso weiß wie die Perkalvorhänge an ihrem Zimmerfenster, und die Dächer Istanbuls glichen nun denen Londons. Der heftige Wind verbot es auszugehen, der Bosporus war praktisch nicht mehr zu sehen. Nachdem Alice im Hotelrestaurant ihr Frühstück eingenommen hatte, ging sie wieder hinauf in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch, wo sie fast jeden Abend saß und einen Brief schrieb.
Anton,
die letzten Januartage. Der Winter ist hier ausgebrochen und verschafft uns heute erstmals Gelegenheit, etwas auszuruhen. Gestern traf ich unseren Konsul, der mir wenig Hoffnung machte, in Erfahrung zu bringen, ob meine Eltern je hier gewesen sind. Ich möchte Dir nicht verschweigen, dass ich ohne Unterlass überlege, welchen Sinn meine Nachforschungen eigentlich haben. Häufig frage ich mich, ob mich die Vorhersagen einer Hellseherin oder der Wunsch, ein neues Parfüm zu entdecken, zum Aufbruch von London bewogen haben oder ob Du es bist. Ich schreibe Dir heute Morgen aus Istanbul, weil Du mir fehlst. Warum habe ich diese besondere Zärtlichkeit, die ich Dir gegenüber empfinde, eigentlich verheimlicht? Vielleicht hatte ich Angst, unsere Freundschaft zu gefährden. Seit dem Tod meiner Eltern bist Du die einzige Verbindung zu diesem Teil meines Lebens. Nie werde ich die Briefe vergessen, die ich während der langen Monate, in denen ich mich auf die Insel Wight geflüchtet hatte, jeden Dienstag von Dir erhalten habe.
Ich wünschte, Du würdest mir weitere Briefe schreiben, ich könnte lesen, was es bei Dir Neues gibt, wie Deine Tage verlaufen. Meine sind zumeist fröhlich. Daldry ist ein Enfant terrible, dabei aber ein echter Gentleman. Und die Stadt ist schön, das Leben hier fesselnd, und die Menschen sind großzügig. Ich habe auf dem Großen Basar etwas gefunden, was Dir Freude machen wird, mehr sage ich nicht. Ich habe mir geschworen, dieses Mal nichts zu verraten. Wenn ich zurück bin, werden wir an der Themse spazieren gehen, und Du wirst für mich spielen …
Alice hob ihren Stift hoch, kaute an der Kappe und strich ihre letzten Worte aus, bis sie unleserlich waren.
… wir werden am Ufer der Themse spazieren gehen, und Du wirst mir erzählen, was Du alles erlebt hast, während ich so weit fort von London war.
Glaube nicht, dass ich nur abgereist bin, um hier die Touristin zu spielen. Meine Arbeit kommt voran oder besser gesagt, ich habe neue Projekte. Sobald es das Wetter erlaubt, gehe ich auf den Gewürzmarkt. Letzte Nacht habe ich beschlossen, neue Düfte zum Parfümieren von Innenräumen zu entwickeln. Mach Dich jetzt nicht über mich lustig, die Idee stammt nicht von mir, ich habe sie von dem Parfümeur übernommen, von dem ich Dir in einem der vorherigen Briefe erzählt hatte. Gestern vor dem Einschlafen dachte ich an meine Eltern, und jede Erinnerung war mit einer Geruchsempfindung verbunden. Damit meine ich weder das Eau de Toilette meines Vaters noch das Parfüm meiner Mama, sondern viele andere Düfte. Schließ einmal die Augen und denk an diese Gerüche der Kindheit zurück, den des Leders von Deinem Schulranzen, den der Kreide oder auch der schwarzen Tafel, wenn der Lehrer Dich nach vorn geholt hat. An den Duft des Kakaos, den Deine Mutter in der Küche zubereitet hat. Bei mir zu Hause war es so, dass es immer nach Zimt roch, wenn Mama kochte, sie würzte damit praktisch jede Nachspeise. Bei der Erinnerung an die kalten Winter meine ich, wieder den Geruch von dem Kleinholz wahrzunehmen, das mein Vater im Wald sammelte und im Kamin verbrannte. Die Erinnerung an die Frühlingstage verbindet sich mit den Wildrosen, die er meiner Mutter schenkte und deren Duft den Wohnraum erfüllte. Mama sagte immer zu mir: »Wie machst du das nur, dass du das alles riechen kannst?« Sie hat nie verstanden, dass ich jeden Augenblick meines Lebens mit dem für ihn typischen Geruch kennzeichnete, dass dies meine Sprache war, meine Art, die Umwelt zu erfassen. So sammelte ich die Gerüche der verstreichenden Stunden, wie andere die farblichen Veränderungen eines Tageslaufs beobachten. Ich konnte Dutzende von Duftnoten unterscheiden, die des Regens, der auf Blätter tropft und sich mit dem Moos an den Bäumen verbindet, den des
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