Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
sondern ab Ende 1913. Ihr Vater studierte Pharmakologie und wollte hier Studien über asiatische Arzneipflanzen abschließen. Ihre Eltern hatten sich in einer kleinen Wohnung im Viertel Beyoğlu eingemietet. Nicht weit von hier, übrigens.«
»Wie haben Sie das alles herausgefunden?«, wollte Daldry wissen.
»Ich muss Sie sicher weder an das Chaos erinnern, in das die Welt im August 1914 stürzte, noch an die ärgerliche Entscheidung des Osmanischen Reichs im November desselben Jahres, sich mit den Zentralmächten und damit auch mit Deutschland zu verbünden. Ihre Eltern waren Untertanen Seiner Majestät, sie befanden sich also ipso facto auf der Seite derer, die das Osmanische Reich als seine Feinde betrachtete. Ihr Vater, der wohl die möglichen Gefahren ahnte, denen er und seine Frau ausgesetzt sein könnten, hatte die Idee, ihre Anwesenheit in Istanbul in ihrer Botschaft bekannt zu geben, nicht ohne die Hoffnung, in die Heimat zurückgebracht zu werden. Leider war das Reisen in diesen Kriegszeiten nicht ungefährlich. Sie mussten sich noch lange gedulden, bevor sie nach England zurückkehren konnten. Aber, und das hat es uns ermöglicht, ihre Spur zu verfolgen – sie hatten sich unter den Schutz unserer Behörde gestellt, um sich jederzeit in die Botschaft flüchten zu können, falls sie wirklich in Gefahr geraten wären. Wie Sie wissen, bleiben Botschaftsgebäude unter allen Umständen unverletzliches Territorium.«
Während Alice dem Konsul zuhörte, wurde sie so bleich, dass Daldry sich schließlich sorgte.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und ergriff ihre Hand.
»Soll ich einen Arzt rufen lassen?«, hakte der Konsul nach.
»Nein, es ist nichts«, stammelte sie, »bitte fahren Sie fort.«
»Im Frühjahr 1916 gelang es der britischen Botschaft, rund hundert Staatsangehörige heimlich an Bord eines Frachtschiffs außer Landes zu bringen, das unter spanischer Flagge fuhr. Spanien war neutral geblieben, und das Schiff konnte die Dardanellen passieren und ungehindert Gibraltar erreichen. Dort haben wir die Spur Ihrer Eltern verloren, aber Ihre Existenz beweist ja, dass sie ihr Heimatland wohlbehalten erreicht haben. Damit, Miss, habe ich Ihnen alles mitgeteilt, was ich in Erfahrung bringen konnte …«
»Was ist los, Alice?«, fragte Daldry, »Sie sehen völlig durcheinander aus.«
»Das ist unmöglich«, stieß sie hervor, und ihre Hände begannen zu zittern.
»Miss«, ergriff der Konsul, jetzt fast pikiert, erneut das Wort. »Bitte glauben Sie mir, die Informationen, die ich Ihnen eben gegeben habe, sind absolut seriös …«
»Ich war damals bereits geboren«, sagte sie. »Ich muss zwangsläufig bei ihnen gewesen sein.«
Der Konsul sah Alice aufmerksam an. »Wenn Sie das sagen, aber es überrascht mich, wir haben von Ihnen keine Spur in den von uns konsultierten Unterlagen und Registern gefunden. Vielleicht hatte Ihr Vater Sie bei uns nicht registrieren lassen.«
»Ihr Vater sollte für sich und seine Frau in der Botschaft Schutz gesucht, aber es unterlassen haben, auch die Anwesenheit seines einzigen Kindes zu erwähnen? Das würde mich doch sehr wundern«, schaltete Daldry sich ein. »Sind Sie sicher, Herr Konsul, dass die Kinder in Ihren Verzeichnissen auch auftauchten?«
»Also wirklich, Mister Daldry, was glauben Sie denn? Wir sind ein zivilisiertes Land. Selbstverständlich wurden die Kinder mit ihren Eltern eingetragen.«
»Dann«, sagte Daldry, indem er sich Alice zuwandte, »könnte es sein, dass Ihr Vater es absichtlich unterlassen hat, Ihre Anwesenheit anzugeben aus Sorge, man könnte die Rückführung für ein so kleines Kind als zu gefährlich erachten.«
»Sicher nicht«, protestierte der Konsul lebhaft. »Frauen und Kinder zuerst! Ich habe Beweise dafür, dass es unter den Familien, die an Bord dieses spanischen Frachters gingen, auch Kinder gab und dass sie vorrangig behandelt wurden.«
»In dem Fall sollten wir uns diesen Augenblick nicht mit Spekulationen verderben, die es wahrscheinlich nicht wert sind«, erklärte Daldry. »Herr Konsul, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann. Die Informationen, die Sie uns mitgeteilt haben, übersteigen bei Weitem unsere Erwartungen …«
»Und ich sollte mich an nichts erinnern?«, fiel ihm Alice ins Wort, »sollte alles vergessen haben?«
»Ich möchte nicht indiskret und noch weniger taktlos sein, aber wie alt sind Sie, Miss Pendelbury?«
»Am 25. März 1915 war mein vierter Geburtstag.«
»Anfang des Frühjahrs 1916 waren Sie
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