Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
denn warum solltest Du mir schreiben?
Ich habe eine Entscheidung getroffen. Es hat mich viel Mut gekostet, mir selbst dieses Versprechen zu geben, oder vielmehr, es wird mich viel Mut kosten, es zu halten. An dem Tag, an dem ich nach London zurückkehre, werde ich an Deiner Tür läuten, vor der ich zuvor, versteckt in einer Schatulle, die ich diese Woche noch auf dem Basar kaufen werde, einen Stapel Briefe ablegen werde. Sie wird alle Briefe enthalten, die ich Dir geschrieben, aber nicht abgeschickt habe.
Vielleicht wirst Du sie nachts lesen und vielleicht am nächsten Tag an meiner Tür läuten. Das sind viele »Vielleichts«, aber seit einiger Zeit gehört »vielleicht« zu meinem Alltag.
Um Dir nur ein Beispiel zu geben, ich habe vielleicht endlich einen Grund für diese Albträume gefunden, die mich heimsuchen.
Die Hellseherin von Brighton hatte recht, zumindest in diesem Punkt. Ich habe meine Kindheit im ersten Stock eines Istanbuler Wohnhauses verbracht. Ich habe dort zwei Jahre gelebt. Vermutlich habe ich in einer Gasse gespielt, an deren Ende sich eine große Treppe befand. Ich habe daran keinerlei Erinnerung mehr, aber diese Bilder aus einem anderen Leben tauchen in meinen Nächten auf. Um das Geheimnis zu lüften, das einen Teil meiner frühen Kindheit umgibt, muss ich meine Nachforschungen weiterführen. Ich ahne die Gründe, warum meine Eltern mir nie etwas davon gesagt haben. Wenn ich Mutter gewesen wäre, hätte ich es wie sie gemacht und meiner Tochter die Erinnerungen verschwiegen, die zu schmerzlich waren, um sie zu erzählen.
Heute Nachmittag hat mir jemand die Fenster der Wohnung gezeigt, in der wir gewohnt haben, wo meine Mutter gestanden haben muss, um das Treiben unten auf der Straße beobachten zu können. Ich konnte die kleine Küche erahnen, in der sie unsere Mahlzeiten zubereitete, den Salon, wo ich auf dem Schoß meines Vaters gesessen haben dürfte. Ich hatte geglaubt, die Zeit würde die Wunde ihrer Abwesenheit heilen, aber das ist nicht der Fall.
Gerne würde ich Dir eines Tages diese Stadt zeigen. Wir würden durch die Istiklal-Straße gehen, und wenn wir unten am Rumeli Palas angekommen wären, würde ich Dir den Ort zeigen, wo ich mit fünf Jahren gelebt habe.
Eines Tages werden wir am Bosporus entlangspazieren, Du wirst Trompete spielen, und man wird Deine Musik bis auf die Hügel von Üsküdar hören.
Bis morgen, Anton.
Ich umarme Dich.
Alice
Sie war im Morgengrauen aufgewacht, und als sich der erste silbrige Schimmer auf dem Bosporus spiegelte, hatte sie Lust bekommen, ihr Zimmer zu verlassen.
Der Speisesaal des Hotels war noch leer, die livrierten Kellner waren soeben erst mit dem Eindecken fertig geworden. Alice wählte einen Ecktisch. Sie hatte sich eine Zeitung vom Vortag geholt, die auf einem Beistelltisch liegen geblieben war. Allein im Speisesaal eines Istanbuler Luxushotels in die Nachrichten aus London vertieft, ließ sie irgendwann die Zeitung sinken, und ihre Gedanken wanderten nach Primrose Hill.
Sie stellte sich Carol vor, wie sie die Albermarle Street entlang zum Piccadilly ging, um den Bus zu nehmen. Sie würde auf die hintere Plattform des Doppeldeckerbusses springen und sofort eine Unterhaltung mit dem Kontrolleur beginnen, damit er vergaß, ihren Fahrschein zu knipsen. Sie würde behaupten, er sähe schlecht aus, würde sich vorstellen und ihm raten, sie einmal im Dienst aufzusuchen. Jedes zweite Mal gelang es ihr so, vor dem Krankenhaus mit einem nicht entwerteten Fahrschein in der Tasche auszusteigen.
Sie dachte an Anton mit seiner Umhängetasche, den oberen Mantelknopf selbst in der Winterkälte offen, die rebellische Haarsträhne in der Stirn und noch recht verschlafen. Sie sah ihn den Innenhof durchqueren, sich auf den Hocker vor seiner Werkbank setzen, seine Ziseliermesser zählen, über den runden Knauf seines Hobels streichen und sich nach einem Blick auf den großen Zeiger der Uhr seufzend an die Arbeit machen. Einige Gedanken schickte sie auch zu Sam, der durch die Hintertür die Buchhandlung von Camden betrat, seinen Überzieher auszog und in seinen grauen Arbeitskittel schlüpfte. Anschließend würde er sich in den Laden begeben, die Regale entstauben oder eine Bestandsaufnahme machen, während er darauf wartete, dass ein Kunde käme. Schließlich stellte sie sich Eddy vor, wie er mit ausgebreiteten Armen auf seinem Bett lag und hemmungslos schnarchte. Bei diesem Bild musste sie lächeln.
»Störe ich Sie?«
Alice fuhr zusammen und
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