Die zwei Monde: Roman (German Edition)
abrupt den Mund wieder zu.
»Wie hat sich dein Leben verändert, seit die Dächer Mailands dein Jagdterrain geworden sind? Fühlst du dich stärker? Mächtiger? Nimmst du den Platz ein, der dir zusteht, ganz oben in der Nahrungskette?«
Ich schüttelte den Kopf, aber ich wich auch einen Schritt zurück. Hör nicht auf ihn, er versucht nur, dich durcheinanderzubringen. Das hat er immer getan …
»Du hast keine Ahnung, wie viele Geschöpfe da draußen ihr Unwesen treiben, Veronica. Und wie viele von ihnen früher oder später hinter dir her sein werden. Du glaubst, die Welt zu kennen, die wirkliche Welt, nur weil du ein paar Unterirdische und die eine oder andere Hexerei gesehen hast?«
Er stieß mit seiner Stockspitze ganz leicht auf den Boden und mein Zimmer verschwand in einem Meer aus Finsternis.
Ich konnte einen Schrei der Überraschung nicht unterdrücken. Ich träumte! Der Conte war in meine Träume eingedrungen, nicht in meine Wohnung!
Die Erleichterung darüber, dass meine Eltern in Sicherheit waren, wurde im selben Moment weggefegt von der Erkenntnis, was dieses Eindringen zu bedeuten hatte: Der Conte hatte Zugang zu meinem Geist. Er konnte sich in meine Nächte schleichen. Er konnte mich immer und überall erreichen.
Die Dunkelheit wurde plötzlich von Kerzen erhellt, ein halbes Dutzend, in ein paar Metern Entfernung: Ihr mattes Licht beleuchtete einen hohen und dennoch bedrückenden Raum, der wenig größer war als mein Zimmer, es glitt über leere Augenhöhlen hinweg und ließ die gelblichen Knochen menschlicher Schädel erkennen, die an den Wänden aufgereiht waren. Ich schnappte nach Luft: das Ossarium, der Ort, wo ich dem Conte zum ersten Mal begegnet war!
Ich suchte den Raum nach ihm ab, er stand neben dem Altar, ein Schatten, schwärzer als alle anderen. Im Schimmer des Kerzenlichts funkelte schwach sein Goldring.
»Was haben Sie vor?«, zischte ich. »Was bedeutet das alles?«
»Ich will, dass du verstehst«, dröhnte seine Stimme durch das Dunkel, »dass du ohne mich keine Hoffnung hast. Die Luperci werden dich finden, vielleicht früher, als du denkst, und dein Freund, der seine Sekte verraten hat, wird dich nicht beschützen können.« Er machte eine Bewegung, und die Dunkelheit schien noch bedrückender, geradezu greifbar, wie dichter Schaum. »Oder es werden dich andere an ihrer Stelle finden. Hast du mir nicht erzählt, dass die Strigen dir schon einen Besuch abgestattet haben? Ich kann dir versichern, dass sie dir noch weniger gefallen würden als die Priester mit den Peitschen. Und dann ist da natürlich der Wolf, der dich bei Vollmond zu der Seinen machen wird, für immer .«
Ich schloss die Augen und zwang mich, ruhig zu bleiben, dann öffnete ich sie wieder. »Und die Alternative, die Sie mir anbieten, ist ein Leben am Hundehalsband?«
»Die Alternative, die ich dir anbiete, ist die, die ich auch Regina angeboten habe: Schutz gegen Gehorsam.«
Ich schwieg. Dann schüttelte ich entschieden den Kopf, in der Hoffnung, dass er mich trotz der Dunkelheit sehen konnte.
»Bevor du dich entscheidest, kleine Veronica, nimm eine Prise Wahrheit zu dir. Schau der Welt in die Augen, schau hinter die Maske!«
Er breitete die Arme aus, sein schwarzer Mantel öffnete sich wie ein Umhang, und dann erschienen die Toten.
Sie kamen von allen Seiten aus dem Dunkel, schemenhafte, verschwommene Gestalten. Es waren Dutzende, zu viele für das kleine Ossarium, und so lagerten sie sich bald übereinander. Ich sah ein Meer bleicher Gesichter und Hände, Männer, Frauen und Kinder, weit aufgerissene Augen, bucklige Schultern und Köpfe, verborgen unter Mönchskapuzen.
Ich wollte zurückweichen, aber dafür war nirgends Platz, nur weitere Finsternis und weitere Gespenster, die sich übereinanderhäuften. Einige trugen noch die Spuren ihres Todes mit sich herum, die Totenmaske der letzten Momente ihres Lebens: durchschnittene Kehlen, strangulierte Hälse, von schwarzen Beulen entstellte Haut. Und da waren die Stimmen. Um ein Vielfaches mächtiger als beim ersten Mal, um ein Vielfaches betäubender. Sie schrien und verlangten nach meiner Aufmerksamkeit, brüllten mich an, ihnen zuzuhören, ihre letzten Gedanken vor dem Tod mit ihnen zu teilen.
Ich hielt mir die Ohren zu, aber es war zwecklos. Ich schrie selbst mit all meiner Kraft, in der Hoffnung, die Stimmen zu übertönen, aber es war, wie gegen einen Wasserfall anzuschreien, oder gegen einen Orkan, und um mich herum wurde alles immer lauter und
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