Die zwei Monde: Roman (German Edition)
anzusetzen, um mich in die Falle zu locken?«
Ivan senkte den Kopf. »Ja.«
Ich fügte nichts weiter hinzu. Stattdessen trank ich meinen Kaffee – der übrigens wunderbar heiß war – und wartete, dass Ivan aufgegessen hatte.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte ich.
Er stand auf, um das Sandwichpapier in den Mülleimer zu werfen. »Ich werde mich verborgen halten; nach Hause kann ich auf keinen Fall zurück. Aber es hat wenig Bedeutung, was mit mir passieren wird.« Er sah mir fest in die Augen. »Veronica, es sind nur noch fünf Tage bis Vollmond.«
Hundertzwanzig Stunden bis zum Ende der Welt. So wenig .
Ich spürte die Kälte bis in die Eingeweide.
»Ich weiß. Aber was können wir tun? …«
»Ich habe darüber nachgedacht. Seit Wochen denke ich an nichts anderes mehr. Mir sind ein paar Ideen gekommen, aber vorher ist es wichtig, dass du mir alles erzählst.«
Ich schreckte zusammen. »Was denn erzählen?«
Er setzte sich wieder neben mich und sah mir in die Augen. »Alles, was dir passiert ist, seit der Nacht, in der du den Wolf getroffen hast. Und alles, was du über die Person weißt, die du gestern Abend besucht hast, den Mann, den du den Conte nennst.«
Und genau das tat ich. Ich hielt mich nicht damit auf, lange zu überlegen, ob ich ihm vertraute oder nicht, ob ich noch Wut empfand oder Groll für das, was er getan hatte, ob es überhaupt einen Sinn hatte, mit ihm zu sprechen. Ich tat es und basta, ohne auch nur innezuhalten, um Luft zu holen. Es war wie ein Dammbruch eines Flusses bei Hochwasser.
Es wurde langsam Abend, und auf den kleinen Platz legte sich die Dunkelheit, während in den Fenstern der Häuser die Lichter angingen. Ivan hörte mir schweigend zu und unterbrach mich kein einziges Mal. Ich erzählte von den schwarzen Männern, von meinem Lauf über die Dächer, von Angela und von dem, was ich ihren Freundinnen angetan hatte, von meinen Begegnungen mit dem Conte und von alldem, was er zu mir gesagt und mich glauben gemacht hatte.
Als ich fertig war, herrschte Stille, merkwürdiger als je zuvor. Der Platz war inzwischen verlassen, der Imbiss und der Zeitungsstand hatten geschlossen, und nur das Echo des Verkehrs war in der Ferne zu hören.
»Dann war das also der Conte Gorani«, murmelte Ivan.
»Kanntest du ihn schon?«
»Nicht persönlich, aber ich hatte von ihm gehört. Wer auch immer sich in Mailand um verborgene Dinge kümmert, kennt ihn zumindest vom Hörensagen; er sucht die Stadt seit fast zweihundert Jahren heim.«
Ich rieb meine kalten Hände und sah ihn an.
Es war leicht gewesen, Ivan von dem Conte zu erzählen, leichter als ich gedacht hätte. Auch der Conte hatte mich betrogen. Der Letzte in meiner Liste von Betrügern, der listigste, der heimtückischste. Strenggenommen hätte ich eine enorme Wut auf ihn haben müssen. Stattdessen spürte ich nichts. Mein Herz hatte sich selbst anästhesiert.
Eine einzige Sache hatte ich bisher nicht verstanden: »Was wollte er eigentlich von mir?«, fragte ich langsam, eher an mich selbst und die Luft gewandt als an meinen Gesprächspartner. »Warum hat er das getan?«
»Er hat es dir doch praktisch selbst gesagt«, erwiderte Ivan mit düsterem Gesicht. »Er hat dir immer alles erzählt, wenn auch auf seine Weise: Im Grunde hat er mit offenen Karten gespielt, nur dass du das Spiel nicht kanntest. Mit der Geduld einer Spinne hat er um dich herum ein Netz aus ausgesprochenen und unausgesprochenen Wahrheiten gesponnen: ein Netz aus unendlich feinen Fäden und schwer zu deutenden Zeichen. Ein Werk, das beweist, dass er zweifellos ein Meister in seinem Fach ist.«
»Aber zu welchem Zweck? …«
»Um den Wolf in seine Gewalt zu bringen. Den Göttern zu befehlen, war schon immer der Traum wissensdurstiger Menschen. Den König der Verzauberten im Spiel zu besiegen, den Geist in eine Flasche zu sperren, den Teufel mit irgendeiner Spitzfindigkeit beim Pakt zu täuschen.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Mann wie er konnte die Gelegenheit nicht ignorieren, die das Schicksal ihm in die Hände gespielt hatte: Lupercus wieder auf der Erde, hier in seiner Stadt, Fleisch geworden im Körper eines Mädchens! Zarte Handgelenke, denen man eine Kette anlegen kann …«
Ich schloss die Augen. »Und ich hatte keine Ahnung.«
»Das konntest du auch nicht. Du warst ja gar nicht vorbereitet. Als er seinen Einfluss auf dich ausgetestet hat, war es zu spät.«
Ich wusste, wovon er redete. Ich dachte an die Nacht, in der der Conte mich zum Turm des
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