Die zwei Monde: Roman (German Edition)
unausgesprochener Dinge war und das ich schon bei unserer Begegnung vor zwei Tagen gespürt hatte. Wie lange würde das noch so weitergehen?
Ich zwang mich, nur daran zu denken, weshalb wir hier waren, was allein schon Grund genug gewesen wäre, um mich in Panik zu versetzen: Ivan brachte mich zu den Strigen.
Als er mir am Samstagnachmittag am Telefon davon erzählt hatte, war mir die Luft weggeblieben. Unter anderen Umständen hätte ich mich kategorisch geweigert. Aber welche Wahl blieb mir inzwischen noch?
»Sie können uns helfen«, hatte Ivan erklärt. »Ich glaube zwar nicht, dass sie das auch wollen , aber es gibt Methoden, sie dazu zu bringen.«
Der Gedanke beruhigte mich nicht im Geringsten. »Der Conte hat mich gewarnt, so weit wie möglich von diesen Geschöpfen wegzubleiben …«
»Und er hat gut daran getan, aber jetzt sind sie unsere einzige Chance .«
»Warum? Was können sie für mich tun?«
Ivan hatte lange geschwiegen. »Wenn es einen Weg gibt, den Wolf zu verjagen … einen anderen Weg als durch die Riten des Lupercals, dann kennt ihn niemand besser als sie. Es sind uralte Wesen, die ältesten, mit denen wir Kontakt aufnehmen können: Früher haben die Leute sie sogar als Orakel konsultiert, zur Vergangenheit oder zur Zukunft, zumindest die, die den Mumm dazu hatten. Im Lauf ihres langen Lebens – wenn man es so nennen kann – konnte sie viele Geheimnisse an sich reißen .«
Das klang wirklich verheißungsvoll. »Und wenn sie uns lieber in Stücke reißen wollen, statt mit uns zu plaudern?«
»Es gibt Möglichkeiten, sich zu schützen. Aber ich werde ein wenig Zeit brauchen, um sie vorzubereiten: Wir werden morgen Abend gehen.«
Allein der Gedanke, so lange warten zu müssen, machte mich fertig. »Warum nicht gleich heute Nacht?«
»Weil ich nicht alles Notwendige an einem Nachmittag beschaffen kann. Und dann ist Samstag: Die Straßen werden bis spät in die Nacht voller Leute sein, und wir müssen heimlich in einen abgezäunten Ort einsteigen, der sich mitten in der Stadt befindet.«
»Welchen Ort?«
»Den Zentralfriedhof.«
Und plötzlich war er da, dieser Friedhof. Wir waren abgebogen und auf einem Platz gelandet, der von ähnlich grellen Lichtern angestrahlt wurde wie die Baustelle am Bahnhof. Der Anblick war so überraschend gigantisch, dass mir schwindlig wurde.
Den Friedhofseingang bildete ein Gebäude aus weißem Stein mit einer breiten Treppe davor, das in allen Details aussah wie eine Kathedrale (erst später erfuhr ich, dass es keine Kirche, sondern eine Grabstätte für die berühmten Toten ist). Auf dem Dach thronte eine achteckige Kuppel, deren Konturen mit geradezu schmerzhafter Klarheit den schwarzen Himmel durchschnitten. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein Säulengang, etwa so hoch wie ein drei- oder vierstöckiges Gebäude, hinter dessen Arkaden die Umrisse von massiven Grabmonumenten erkennbar waren.
Auf den ersten Blick sah das Gebäude weniger wie ein Friedhof, sondern wie eine militärische Festung aus, dafür gebaut, einer Belagerung standzuhalten. Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes aus betrachteten Ivan und ich eine Weile die eindrucksvollen Mauern.
»Wie sollen wir da reinkommen?«, fragte ich schließlich, ohne ihn anzusehen.
Er wies auf ein Metallgeländer, das den Platz in zwei Hälften teilte. »Wir steigen über das Gitter und dann klettern wir zu den Arkaden hoch.«
Das Gitter war tatsächlich kein großes Hindernis, aber der Sockel unter den Arkaden schien eine glatte Wand zu sein und war mindestens ein Stockwerk hoch.
»Ich kann auch von hier aus drüberspringen«, sagte ich, »und dich mitnehmen.«
»Nein.«
Ivan sah mich eindringlich an. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass wir uns in die Augen sahen: Er erschien kühl und angespannt, aber ich beschloss, es als Konzentration auf die Sache zu interpretieren.
»Ruf nie den Wolf, von jetzt an!«
Ich holte tief Luft. »Warum?«
»Die Strigen würden ihn bemerken, und ich weiß nicht, wie sie darauf reagieren würden. Du hast mir erzählt, dass sie dir schon einmal einen Besuch abgestattet haben.«
Ich zuckte die Schultern, eine Ruhe zur Schau stellend, die nur vorgetäuscht war. »Du hast gesagt, sie kennen die Zukunft: Also könnten sie genauso gut schon da sein und auf uns warten.«
Er presste die Lippen zusammen, nickte aber. »Das ist möglich. Aber es ist trotzdem kein Grund, unnötige Risiken einzugehen. Ruf bitte nicht den Wolf, Veronica!« Er schwieg einen
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