Die zwei Monde: Roman (German Edition)
gingen wir im Gänsemarsch bis zu den Arkaden, wo Ivan mir ein zweites Mal hinaufhalf und ich ihm dann die Hand hinstreckte, um ihn zu mir heraufzuziehen.
Oben angekommen, blickten wir uns um: Wir befanden uns in einer Art weitläufiger Gewölbegalerie, in der unsere Schritte laut widerhallten, sosehr wir uns auch bemühten, leise zu sein. Seltsame kleine Scheinwerfer verströmten ein orangefarbenes Licht und warfen lange Schatten in alle Richtungen. Vor uns lagen zu beiden Seiten die Arkaden, unter denen gigantische Steinsarkophage thronten. Sie wurden von Statuen überragt, die im Halbdunkel buckelig und unförmig erschienen.
Ich ging auf einen der inneren Torbögen zu, so vorsichtig, als würde ich mich etwas Unbekanntem und Gefährlichem nähern, und schaute auf den Friedhof unter mir: ein riesiges Areal mit schwarzen Gebilden, so weit das Auge reichte, schattenhafte Gestalten im Wechsel mit baumbestandenen Wegen und alles in eine geradezu greifbare Dunkelheit getaucht. Abgesehen von den Scheinwerfern an den Außenmauern war kein einziges Licht zu sehen: kein Lämpchen, kein Grablicht, nichts. Das Herz des Friedhofs war nachtschwarz.
Ivan trat an meine Seite.
»Es ist so dunkel …«, flüsterte ich.
»Die Mehrzahl der Gräber ist sehr alt: Der Friedhof ist aus dem neunzehnten Jahrhundert. Deshalb sind wir hier. Es gibt zwar größere Friedhöfe in Mailand, aber dort wäre es weniger einfach, das zu finden, was wir suchen.«
Er ging durch die Galerie in Richtung Hauptgebäude und ich folgte ihm, alles andere als glücklich, in diesen Ozean aus Dunkelheit eintauchen zu müssen. Über eine Treppe gelangten wir nach unten, und dann lenkte Ivan seine Schritte geradewegs auf das Schwarz zu.
Ich verlor fast sofort die Orientierung. Wir gingen an Grabkapellen und mehr als mannshohen Denkmälern vorbei, die wie gefrorene Giganten in die Nacht hineinragten: Mit Mühe erkannte ich Säulen, Torbögen, kleine Kapellen, die aussahen wie winzige antike Tempel, und ganz in der Ferne sogar einen ägyptischen Obelisken. Und überall standen Skulpturen; einige allein, andere zu ganzen Personengruppen zusammengefasst: Figuren, die knieten oder zur ewigen Ruhe gebettet lagen, solche, die die Hände vors Gesicht geschlagen hatten, um die Tränen zu verbergen, Frauen mit Schleiern auf dem Kopf, Engel mit Flügeln und in einer Geste des Erbarmens ausgebreiteten Armen.
Mehrfach ging mir die Frage durch den Sinn, wie das Ganze wohl mit den Augen des Wolfes aussehen würde, aber ich widerstand der Versuchung. Ich schaute verstohlen zu Ivan, der schweigend neben mir herlief. Und plötzlich stieg mir ein Duft in die Nase, so deutlich, dass ich für einen Augenblick fürchtete, ungewollt den Wolf gerufen zu haben.
Bis zu diesem Moment war die Nachtluft neutral gewesen, ohne irgendwelche Gerüche. Ich schnüffelte nochmals, und wieder konnte ich ihn wahrnehmen: ein süßer, warmer, intensiver Duft, wie von …
Plätzchen.
Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich.
Aber es war so, ein Windhauch trug mir eine weitere Woge Keksduft in die Nase. Ein ganz vertrauter Geruch diesmal, aus der Vergangenheit, aus der Zeit, als ich noch ein Kind war … Hatte meine Mutter je Plätzchen gebacken, als wir in Ravenna lebten?
Ja, tatsächlich hatte sie das. Jetzt erinnerte ich mich. Es war ein Sommermorgen gewesen, die Sonne schien durchs Küchenfenster herein, die Luft vibrierte wegen der Hitze des Ofens, und meine Mutter sagte gerade zu mir …
Etwas unvorstellbar Schreckliches zerteilte meinen Verstand in zwei Hälften, ich schrie auf.
Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Es war, als würde sich etwas Schwarzes, Hartes und Gekrümmtes mit voller Wucht in meine Gedanken krallen, sich zusammenziehen und etwas mit sich reißen . Ich presste die Hände an die Schläfen und taumelte.
»Ivan!«
Ich hörte das Echo meines Schreis zwischen den Gräbern, aber es kam keine Antwort. Um mich herum nichts als Dunkelheit, Bäume und schemenhafte Statuen. Ich war allein.
Die Luft stand still. Keine Düfte, nichts. Das Bild aus meiner Kindheit war verschwunden.
Ich drehte mich um die eigene Achse. Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass Ivan sich von mir entfernt hatte. Oder war es umgekehrt? Hatte ich mich von ihm entfernt, ohne mir dessen bewusst zu sein? War ich einfach drauflosgelaufen wie eine Schlafwandlerin?
»Ivan!«, rief ich noch lauter.
Als Antwort hörte ich nur das Rauschen des Windes und dann, ganz deutlich, das Schlagen von
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