Die zwei Monde: Roman (German Edition)
noch durch die Luft schwebte.
Ivan legte mir eine Hand auf den Arm. »Bist du in Ordnung?«
Ich nickte und schaffte diese Geste, ohne zu zittern. »Ich konnte mich nicht mehr bewegen …«
»Sie haben dir eine Kralle in die Zirbeldrüse gebohrt. Das ist der Punkt, wo sich Fleisch und Seele begegnen. Die Strigen machen das immer so mit ihren lebendigen Opfern.«
Ich betastete meinen Hinterkopf, fand aber keine Spur einer Wunde. Ich verzichtete auf weitere Fragen.
»Bist du bereit?«
Ich nickte wieder.
Ivan wandte sich an die Dunkelheit. »Töchter der Nacht! Ihr habt die Worte gehört, und ihr könnt euch ihrem Befehl nicht entziehen! Bei der Macht von Hekate und Proserpina, von Orcus und Pluto, dem unsterblichen Gott der Finsternis, und den ewigen Wassern des Styx rufe ich euch, binde ich euch und befehle ich euch, auf unsere Frage zu antworten! Habt ihr mich gehört?«
Ein Rauschen und Schnalzen war zu hören, dann erklang von Neuem die weibliche Stimme, die jetzt ohne jede Süße war: » Stelle die Frage, Sterblicher. Und frage schnell. Wir werden nicht lange duldsam sein .«
Ivan warf mir einen Blick zu und nickte.
Ich holte tief Luft. »Wie kann ich mich vom Geist des Wolfes befreien? Was hält ihn für immer von mir fern?«
Das Dunkel erzitterte wieder, aber diesmal kam die Antwort ohne Zögern. » Der Tod .«
Ich merkte, wie Ivans Atem stockte.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben!«, rief ich in die Nacht. »Ein Zeichen, ein Zauber, ein Ritus …!«
» Der Tod «, wiederholte die Frauenstimme. » Nur der Tod, Tochter des Fleisches, kann den Alten der Wälder vertreiben. Und der Tod erwartet dich in der Vollmondnacht, wenn du dich dem Schicksal widersetzt, das dich an den Wolf bindet .« Ich hörte ein Kratzen wie von Krallen auf Stein. » Jetzt geht, Sterbliche. Ihr habt das Orakel gehört. Verschwindet aus unserem Hoheitsgebiet! «
Schweigend schloss ich die Augen und senkte den Kopf.
Ivan legte einen Arm um meine Schultern. »Wir müssen gehen, Veronica. Der Zauber wird sie nicht ewig in Schach halten.«
Ich antwortete nicht, aber ich ließ mich von ihm aus dem Friedhof führen.
Kapitel 32
Montag 9. März,
Zunehmender Mond
A m Morgen danach kam ich sehr früh in der Schule an, noch vor allen anderen. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Ich setzte mich an meinen Platz und sah zu, wie ein Mitschüler nach dem anderen den Klassenraum betrat und sich wunderte, mich so früh schon hier anzutreffen: darunter auch Giada, die mir einen kurzen Blick zuwarf und dann mit gesenktem Kopf zu ihrer Bank ging; und Alex, der sich inzwischen benahm, als wäre ich unsichtbar. Angela tauchte hingegen nicht auf, und neben denen ihrer Freundinnen gab es nun einen leeren Platz mehr.
Endlich kam auch Irene, eingemummelt in ihren cremefarbenen Mantel. Sie durchquerte schweigend das Klassenzimmer, stellte die Schultasche mit der linken Hand zu Boden und setzte sich neben mich. Es war deutlich zu sehen, dass sie den rechten Arm so wenig wie möglich bewegte. Unsere Blicke begegneten sich, wir sahen einander so lange in die Augen wie nie zuvor.
Ich hatte ihr tausend Dinge sagen wollen, aber jetzt brachte ich kein Wort über die Lippen. Ihre Augen wirkten noch größer denn je und so ruhig und tief wie zwei Bergseen. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen, und öffnete den Mund …
»Nachher«, flüsterte sie. »In der Pause. Wenn wir allein sind.«
Die Pause kam nach gefühlten sechs Monaten. Als das Geplapper unserer Mitschüler endlich verstummte, saßen nur noch wir beide im Zimmer. Mein Blick wanderte zu ihrer rechten Hand, die in ihrem Schoß lag: Den ganzen Vormittag hatte sie nichts mitgeschrieben.
Sie folgte meinem Blick. »Es ist nur eine Prellung«, sagte sie leise. »Nichts Schlimmes. Es tut nur weh, wenn ich sie bewege. In ein paar Tagen ist alles vorbei.«
Ich schluckte, holte Luft, schluckte wieder.
»Vor einem Monat«, nahm sie den Faden wieder auf, »hast du mir eine Wunde an deinem Bein gezeigt, die deiner Ansicht nach zu schnell heilte. Dann bist du so komisch geworden: erst müde und nervös und nach ein paar Tagen immer ruhiger und sicherer. Und aggressiver.« Ich riss die Augen auf, aber sie signalisierte mir mit einer Geste, sie ausreden zu lassen. »Am Samstag habe ich dir in die Augen gesehen. Nur eine Sekunde lang, aber das hat genügt. Es ist schwierig, zu erklären, was ich gesehen habe, aber ich habe es ohne Zweifel gesehen.«
Ich presste die Lippen zusammen und
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