Die zwei Monde: Roman (German Edition)
nickte.
»Wie viel wiegst du, Veronica?«
Die Frage überraschte mich. »Siebenundvierzig Kilo.«
»Ich fast zweiundfünfzig.«
Das wunderte mich nicht: Irene war so groß wie ich, aber sie war nicht so dünn und hatte eine schönere Figur.
»Ein Mädchen von siebenundvierzig Kilo hebt nicht einfach so eines von zweiundfünfzig hoch und schleudert es durch die Luft wie eine Schaumgummipuppe.« Sie sagte es in neutralem Ton, wie man eine ganz selbstverständliche Tatsache ausspricht. »Nicht unter normalen Umständen. Das ist Energumenismus.«
Ich sah sie an, zunehmend verwirrt.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist kein medizinischer Fachausdruck. Er kommt aus der Parapsychologie: Es ist eine Bezeichnung für das Vorhandensein von Kräften, die den menschlichen überlegen sind. Unnatürlich überlegen. In vielen Religionen wird das als Zeichen von Besessenheit betrachtet.«
Wir schwiegen beide.
»Wenn ich dir alles erklären würde …«, flüsterte ich endlich. »Wenn ich dir alles erzählen würde, Irene, du würdest mir kein einziges Wort glauben …«
»Veronica«, unterbrach sie mich von Neuem. »Der Bruder meines Großvaters war ein Geistheiler.«
Ich runzelte die Stirn.
»Ja, du hast richtig gehört. Der Onkel meiner Mutter. Er lebte auf dem Gutshof meiner Großeltern, im Tessin, in der Nähe von Pavia: Als kleines Kind habe ich viele Sommer dort verbracht, während meine Eltern in Mailand blieben. Er heilte die Kranken, indem er ihnen seltsame Zeichen auf die Haut malte oder sie mit merkwürdigen Steinen berührte. Sie wurden wirklich wieder gesund. Eines Nachts haben sie ihm einen Mann gebracht, der schrie und zappelte, als würde er unter Strom stehen; seine Frau sagte, dass man ihn verhext habe. Er machte so viel Lärm, dass ich aufgewacht und zur Treppe gelaufen bin, um zu sehen, was los war. Der Mann war alt, grau und sehr mager, aber sie konnten ihn nicht halten, obwohl sie zu fünft waren: Ich habe gesehen, wie er mit einem Fausthieb eine Holzbank zerschlagen hat. Der Bruder meines Großvaters machte ein Zeichen auf seine Stirn, eins aufs Herz und eins auf den Mund und sprach dazu ein Gebet, der Mann verlor daraufhin das Bewusstsein. Einfach so, auf einen Schlag. Am Morgen danach ging es ihm wieder gut, und er konnte sich an nichts erinnern.« Sie schwieg einen Moment. »Nach diesem Erlebnis haben mir meine Eltern nicht mehr erlaubt, dort die Sommerferien zu verbringen.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Übt er diesen Beruf immer noch aus?«, fragte ich endlich mit einem bemühten Lächeln. »Könnte vielleicht was für mich sein …«
»Er ist vor zwei Jahren gestorben. Im Schlaf.«
Ich schlug die Augen nieder. »Das tut mir leid.«
Irene nickte gedankenverloren. »Beim Begräbnis habe ich gehört, wie mein Großvater einer mir unbekannten Frau zugeraunt hat, dass eine Rivalin seinen Bruder mit einem Fluch umgebracht hätte. Eine Hexe.«
Erneutes Schweigen. Diesmal unterbrach sie es. »Ich sage dir dies nur, Veronica, damit du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, was passiert ist. Was immer es auch ist.«
Ich versuchte etwas zu sagen, aber am Ende nickte ich nur.
»Ich komme dich heute Nachmittag besuchen, okay?«
»Ja.«
Irene stand auf. »Kommst du mit aufs Klo?«
»Ja.«
Vor der Tür blieb ich noch einmal stehen. »Irene …«
»Ja?«
»Ich hab dich wirklich lieb.«
Sie lächelte und fasste nach meiner Hand. »Ich dich doch auch, du Dussel. Ich dich auch.«
Nach Schulschluss ging ich im Sturmschritt zur Metro. Es wehte ein heftiger Wind und aus der Ferne war Donnergrollen zu hören: Ein Unwetter war im Anmarsch.
Ich spürte jemanden neben mir, noch bevor ich ihn sah: Ich fuhr herum, und da war Ivan.
Ich zwang mich dazu, die sofort geballten Fäuste wieder zu öffnen und die Energie abfließen zu lassen, die mir von einem Moment auf den anderen durch die Adern gerast war. »Mach das nie wieder! Ich hätte dir an die Kehle springen können.«
Er musterte mich. »Ist es schon so schlimm?«
Ich senkte den Blick, nickte aber.
Wir gingen weiter, Seite an Seite.
»Dann weißt du also auch, wo ich zur Schule gehe«, sagte ich. »Hast du mich bis hierher verfolgt?«
»Einmal.«
Ich erwiderte nichts.
»Hör mir zu, Veronica …«
»Ich hör dir zu.«
Ich hörte, wie er Luft holte. »Was auch immer die Strigen gesagt haben, ich werde mich nicht geschlagen geben. Es gibt noch Wege, die möglich sind, Türen, an die man klopfen kann. Ich bin dabei,
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