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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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entlang. Ich versuchte, das Gesicht abzuwenden, aber vergebens.
    » Kommst du, um uns Gaben zu bringen, und damit mich und meine Schwestern zu ehren ?«
    Ich versuchte, den Kopf zu schütteln und etwas zu sagen, aber es war einfach unmöglich. Dann schlug das schwarze, schreckliche Ding von Neuem zu, in meinem Inneren , einmal, zweimal, dreimal, und riss mit seinem Schnabel alles an sich, was es erreichen konnte. Ich schrie tonlos, während mir die Tränen übers Gesicht liefen.
    Ich weiß, dass ich eine Großmutter hatte, die starb, als ich noch klein war, aber ich kann mich weder an ihr Gesicht noch an ihre Stimme erinnern. Ich weiß, dass ich mit dreizehn den Freund einer Freundin geküsst habe, um ihr eins auszuwischen, und dass wir danach heftig gestritten haben; aber ich weiß nicht mehr, wer das war. Ich kann mich nicht mal mehr an die Namen erinnern.
    Um mich herum herrschte wieder Finsternis. Der Wolf hatte sich zurückgezogen. Vage kam mir zu Bewusstsein, dass ich ihn nicht weggeschickt hatte: Er war aus eigenem Antrieb gegangen. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich war.
    Erneutes Flügelschlagen, eine verschwommene Gestalt ließ sich auf dem Dach der Grabkapelle mit den Glastüren nieder. Eine andere hatte sich von der Seite angeschlichen und verharrte nun in der Nähe der Hecke.
    » Wir fühlen uns geschmeichelt von der Gabe, die du uns bringst, Tochter des Fleisches. Ein Geschenk, das so wertvoll ist wie kein anderes .«
    Die Strige, die auf der Kapelle hockte, glitt mit einer stummen Bewegung zu Boden.
    » Ein Festschmaus für eine halbe Ewigkeit! «
    Der Körper hinter mir presste sich noch enger gegen an mich, und auch die anderen beiden Gestalten rückten näher. Und mit einem Schlag wurde mir klar, was sie vorhatten. Sie würden meinen Geist verschlingen, einen Gedanken nach dem anderen, eine Erinnerung nach der anderen, bis ihr wahres Ziel nackt und bloß vor ihnen lag: der Geist des Wolfes. Ein Geist, der so alt war wie der ihre. Die Erinnerungen von tausend Leben.
    Ich bot all meine Kräfte auf, um mich aus der Bewegungslosigkeit zu befreien. Ich spürte einen stechenden Schmerz in den Tiefen meines Gehirns, ich weinte, kämpfte aber umso entschlossener.
    Dann tauchte hinter mir ein Lichtstrahl auf, durchschnitt das Dunkel und brachte die beiden Strigen vor mir dazu, sich zum Schutz vor dem Licht zurückzuziehen. Die Strige in meinem Rücken krümmte sich, ich spürte, wie der Schmerz in meinem Kopf nachließ, und warf mich instinktiv nach vorn. Etwas zerriss , und im selben Moment gehorchten mir meine Beine wieder: Ich rollte mich auf den Boden, oder stürzte vielmehr, aber ich war frei.
    Auf der Erde liegend sah ich, wie Ivan, die Taschenlampe in alle Richtungen schwenkend, auf mich zugerannt kam und wie sich im selben Moment der Schatten einer Strige auf ihn herabsenkte. Ich sah mich verzweifelt nach einer Waffe um und entdeckte weniger als einen Meter entfernt mein Amulett. Ich stürzte mich auf darauf und warf es – da ich nicht wusste, was ich sonst damit tun sollte – in Richtung der Strige.
    Ich war nie besonders gut im Zielen, aber diesmal landete ich einen Volltreffer: Das Säckchen traf den Schatten und explodierte in einer Wolke aus Flammen und Funken. Die Strige stieß ein schrilles, durch und durch animalisches Kreischen aus und zog sich in den dunklen Himmel zurück.
    Ivan war inzwischen bei mir und half mir, aufzustehen.
    »Hier, nimm die Lampe!«, stieß er hervor. »Lass sie nicht näher kommen!«
    Ich packte die Taschenlampe mit beiden Händen und ließ sie um mich kreisen, schwang sie wie eine Lanze. Das Dunkel geriet plötzlich in Bewegung und ein Schatten, der uns schon sehr nahe gekommen war, zog sich schnell wieder zurück. Neben mir hob Ivan mit einer Hand etwas in die Höhe, das ich nicht erkennen konnte, und schrie den Strigen eine fieberhafte Litanei entgegen. Ich hörte den Namen »Hekate« und Wortfetzen, die wie Donner grollten, seltsamer und altertümlicher als jede Lateinvokabel, die ich je gelernt hatte. Die Anrufung dauerte vielleicht fünf Sekunden und hallte durch die Nacht, als hätten Dutzende von Stimmen sie gerufen, dann folgte Stille. Ivan senkte den Arm und warf den Gegenstand in seiner Hand auf den Boden vor seinen Füßen: eine winziges Stück Metall, zweimal gefaltet und von einem langen Nagel durchbohrt.
    Ich sah mich um: Die Strigen waren nicht mehr zu sehen, aber ihre Gegenwart war trotzdem spürbar, wie ein ekelerregender Schatten, der

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