Die zwei Monde: Roman (German Edition)
langstieligen Neonlampen, die wie leuchtende Palmenblätter aussehen. An einem dieser Tische saß Ivan vor einem Kaffee und einem Hörnchen.
Er trug Jeans, ein hellgraues Sweatshirt, das ziemlich abgetragen aussah, und eine Lederjacke, ziemlich ähnlich wie meine. Jetzt, da er keine Badekappe aufhatte, sah ich, dass seine noch feuchten Haare ihm bis über die Schultern reichten. Sie waren sehr schön.
Er bemerkte mich im selben Moment wie ich ihn. »Ich hätte nicht gedacht, dich so bald schon wiederzusehen.«
»Ich auch nicht. Du hattest gesagt, du wärst spät dran.«
Er nickte. »Mein Wagen ist noch nicht da.«
Das hörte sich merkwürdig an. Leute, die in Mailand mit dem Auto statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren, saßen normalerweise selbst am Lenkrad. Wenn man auf dem Beifahrersitz Platz nahm, gab es dafür meist nur zwei Gründe: Entweder man war noch zu jung, um selber zu fahren, oder man hatte jemanden, der einen herumchauffierte, wie Irene zum Beispiel.
Ivan gehörte mit Sicherheit nicht zur ersten Kategorie.
Er zeigte auf den Stuhl vor dem seinen. »Leistest du mir Gesellschaft oder hast du es eilig?«
Ich warf einen Blick auf die Uhr hinter der Bar, sie zeigte sechs Uhr zwanzig: Zehn Minuten würde ich gut erübrigen können …
»Möchtest du einen Kaffee?«, insistierte er.
»Ich trinke um diese Zeit keinen Kaffee.«
»Ein Hörnchen, eine Cola, einen Fruchtsaft?«
Ich studierte das Angebot und kaute unbehaglich auf meiner Lippe herum: nur Chipstüten und süßes Zeug, nichts, das mit meinem festen Vorsatz kompatibel gewesen wäre, keine überflüssigen Kalorien zu mir zu nehmen.
»Wenn du dich an meinen Tisch setzt, muss ich dir etwas spendieren; aber ich weigere mich, dir einfach nur ein Glas Wasser zu bestellen.« Er lächelte. »Du hast vorhin beim Schwimmen genug Fett verbrannt: Wegen eines Hörnchens wirst du nicht in der Hölle landen.«
Ich versuchte, cool zu bleiben: Konnte er etwa Gedanken lesen?
»Ich frage dich ein drittes Mal, wie man das in Japan tut, wenn man etwas anbietet: Die ersten beiden Male kannst du aus Höflichkeit ablehnen, aber beim dritten Mal musst du annehmen.«
In einer seltsamen Mischung aus Niederlage und Erleichterung setzte ich mich zu ihm. »Aber kein Hörnchen, bitte. Ich nehme eine Cola. Mit Eis, ohne Zitrone.«
Ivan nickte, ging zur Theke und kam mit einem viel zu großen Glas Cola zurück. Ich sah ihm sorgenvoll entgegen: Ich mag Cola wirklich gern, sehr gern sogar. Aber es gibt nichts Gefährlicheres in der Welt der Kalorien.
Auch diesmal erriet er meine Gedankengänge. »Glaub mir, du kannst es dir leisten. Du bist super durchtrainiert: Im Grunde könntest du ruhig fünf von solchen Gläsern trinken.«
Ich fühlte eine angenehme Wärme in mir aufsteigen und merkte zu spät, dass ich lächelte. Ich senkte die Augen, in der Hoffnung, dass mein Grinsen nicht allzu idiotisch gewirkt hatte. Aber als ich wieder hochsah, lächelte auch er.
Er biss in sein Hörnchen. »Was machst du so im Leben?«
»Lernen.«
»Welche Fakultät?«
Ich hob die Augenbrauen. »Wie bitte?«
»Was studierst du? Wenn ich raten sollte, würde ich sagen: Literaturwissenschaften. Du machst so einen Eindruck.«
Ich schluckte. Mein Mund war plötzlich ganz trocken. »Ich gehe aufs Gymnasium. Humanistischer Zweig.«
Er hob eine Augenbraue. »Im Ernst?«
»Ich bin siebzehn.«
»Du wirkst älter.«
Ich nahm einen großen Schluck Cola, um meinen Gesichtsausdruck zu verbergen. »Und du, wie alt bist du?«
»Dreiundzwanzig.«
»Und … was studierst du?«
»Kunstgeschichte.«
Das hatte ich nicht erwartet. Er schien alles andere als ein Historiker oder ein Künstler zu sein. Tatsächlich wirkte er nicht mal wie ein Student: Je länger ich ihn ansah, desto müheloser konnte ich ihn mir in Tunika und Rüstung vorstellen, den Speer in der Hand, den Blick herausfordernd in die Augen irgendeines Dämonen gerichtet, der soeben der Hölle entstiegen war. Sein Platz war nicht in der Bar eines Schwimmbads oder im Hörsaal einer Universität. Er passte viel besser zwischen die Seiten eines Manga-Comics wie Angela und ihre Freundinnen. Ich umklammerte mein Colaglas.
Der Gedanke irritierte mich.
Ivan bemerkte es sofort, warf einen langen Blick auf meine Hände und legte die Stirn in Falten. »Was hast du denn da an der Hand? Eine Brandwunde?«
Auch ich sah auf das gerötete Mal hinunter, das sich – groß wie ein Eurostück – auf meiner hellen Haut abzeichnete.
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