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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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wenn du sie etwas schmoren lässt. Alex kann ruhig ein paar Tage warten.«
    Ich biss mir auf die Unterlippe, nicht sehr überzeugt.
    »Du hast keinerlei Veranlassung, ihm hinterherzurennen, kapierst du das nicht?«, insistierte Irene. »Besonders, da er so tut, als würde er dich gar nicht zur Kenntnis nehmen, aus welchen Gründen auch immer. Lass ihn nur warten: Jetzt bist du es, die die Zügel in der Hand hält.«
    Ich musste zugeben, dass ich die Sache noch nicht von dieser Warte aus betrachtet hatte. Ich sah mich um und stellte fest, dass Alex sowieso schon weg war: Der Samstag ist immer der Tag, an dem sich alle in Windeseile zerstreuen. Es war also beschlossene Sache: Ich würde ihm nicht nachlaufen. Nicht heute.
    Ich verabschiedete mich auf der Straße von Irene und versprach, sie am Nachmittag heimlich anzurufen, um zu erfahren, wie es mit Andrea gelaufen war. Dann ging ich in Richtung Metro und nahm den Weg, auf dem ich letzten Mittwoch dem schwarzen Mann gefolgt war.
    Mit jedem Meter, den ich zurücklegte, verlor ich an Sicherheit. Wusste ich wirklich, was ich da tat? Nein, das tat ich nicht, aber andererseits hatte ich das auch gestern Abend nicht gewusst, als ich mitten in der Nacht hinausgelaufen war, um eine Art Geist zu verfolgen. Allerdings fühlte ich heute nicht die Spur von jenem besonderen Etwas in mir, das – was auch immer es gewesen sein mochte –, letzte Nacht von mir Besitz ergriffen und mich dazu gebracht hatte, über hohe Geländer zu springen und mich Dämonen in den Weg zu stellen, in der unbegreiflichen, absurden, aber absoluten Sicherheit, dass ich die Stärkere war. Ich schüttelte den Kopf und setzte meinen Weg fort; es war einfach zu spät zum Umkehren. Und vielleicht täuschte ich mich ja auch, vielleicht war er gar nicht mehr da …
    Tatsächlich war er genau dort, wo ich ihn erwartet hatte, an derselben Stelle unter seiner Pinie, auf der Straße mit den umzäunten Gärten.
    Bettler suchen sich, wie man weiß, meistens einen Platz, an dem sie eine Weile bleiben.
    Ich blieb an der Straßenecke stehen und beobachtete ihn: Er schien vor sich hin zu dösen. Die Straße war verlassen und still. Ich näherte mich ihm mit schnellen Schritten, bemüht, kein Geräusch zu machen, und stand schließlich direkt vor ihm. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kinn war sicher seit mehreren Tagen nicht rasiert, seine langen rotblonden Haare fielen ihm über die Schultern, spärlich und schmierig. Er trug drei oder vier teils geflickte Pullover übereinander und lag halbausgestreckt auf einer abgewetzten Militärdecke, um sich herum zwei bis zum Platzen gefüllte Umhängetaschen. Seine Stirn zierte eine kreisförmige Narbe, so rot wie eine Brandwunde. Sie war von seltsamen Linien durchzogen und erinnerte mehr als alles andere an einen Fingerabdruck.
    Ich stand gut zwanzig Sekunden da und starrte ihn an, bevor er hochschreckte und mich entdeckte. Kaum war ich dem Blick seiner animalischen Augen begegnet, brannten die meinen und füllten sich mit Tränen. Aber dieses Mal war ich vorbereitet, und tat das, was ich mir vorgenommen hatte: Ich weitete die Pupillen.
    Ich war mir keineswegs sicher, ob es funktionieren würde. Schon am Morgen, auf dem Weg zur Schule, hatte ich es mehrmals probiert, und auch auf dem Weg in diese kleine Gasse: ohne Erfolg. Jetzt legte ich in meinen Versuch alle Überzeugung, zu der ich fähig war, wie ich es schon in der Nacht zuvor getan hatte. Und diesmal, wer weiß warum, gelang es.
    Der Tränennebel löste sich auf, und die Welt wurde schwallartig von Licht überflutet. Wenn ich das Gefühl beschreiben sollte, dann würde ich sagen, es war, als hätte ich die eigene Optik zum ersten Mal im Leben wirklich scharf gestellt: Jedes einzelne Objekt wurde deutlich umrissener, klarer. Jeder Zentimeter, nein, jeder Millimeter meiner Umgebung füllte sich mit unzähligen Details, und alle Farben schimmerten in unfassbaren Schattierungen.
    Der Bettler war aufgestanden und schien drauf und dran, wegzurennen, aber dann sah er mich noch einmal an und erbleichte. Er stolperte über seine eigenen Füße, als wäre ihm plötzlich eingefallen, doch nicht flüchten zu wollen, und kramte dann verzweifelt in seinen Taschen herum. Schließlich richtete er die lange Klinge eines Messers auf mich und verdrehte dabei seine unglaublichen Reptilienaugen.
    Ich wollte schon zurückzuweichen, aber dann sah ich, wie sehr die Hand mit dem Messer zitterte. Es wäre selbst für mich ein Leichtes gewesen,

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