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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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ihn mit einem Tritt zu entwaffnen.
    Ich versuchte, die Absurdität der ganzen Situation zu ignorieren und eine entschlossene und leicht bedrohliche Miene aufzusetzen, während ich ihn mit meinem Blick durchbohrte.
    Der Mann mit den Schlangenaugen ließ das Messer aus den Händen gleiten und fiel auf die Knie. »Ich bitte dich, tu mir nicht weh!«
    Er wich zurück, bis er an die Mauer hinter sich stieß, und krümmte sich dann zusammen, als würde er erwarten, dass eine ganze Meute im Fieber der Lynchjustiz mit Prügeln über ihn herfallen würde.
    Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich war hier, um ihm Fragen zu stellen, ihn dazu zu bringen, mir etwas von der Welt zu erzählen, zu der offensichtlich auch er gehörte; jedenfalls sofern es mir gelingen sollte, ihn nicht entkommen zu lassen und vor allem die Angst zu bezwingen, die er mir einflößte. Die er mir theoretisch hätte einflößen müssen.
    Und jetzt zitterte er vor mir , als würde von mir eine ungeheuerliche Gefahr ausgehen.
    »Nein … Ich habe nicht die Absicht, dir wehzutun.« Ich versuchte, mit fester, aber nicht drohender Stimme zu sprechen. »Ich will dir nur ein paar Fragen stellen.«
    Er schaute zu mir hoch, immer noch zitternd, und ich fragte mich einmal mehr, was diese gelben Augen mit den vertikalen Pupillen in mir sahen.
    »Nur ein paar Fragen«, wiederholte ich.
    Er zögerte, dann nickte er, den Kopf ruckweise bewegend. »Du versprichst, mich nicht umzubringen«, keuchte er.
    »Ich verspreche es …« Ich konnte nicht glauben, dass ich das wirklich sagte. »Ich verspreche, dich nicht umzubringen.«
    Er entspannte sich nicht, hörte aber auf zu zittern.
    Und jetzt? Es war mir völlig schleierhaft, wo ich beginnen sollte.
    Die Sekunden vergingen.
    »Warum hast du diese Augen?«, entfuhr es mir endlich.
    »Ein Tausch. Vor langer Zeit.« Er hatte eine tiefe und raue Stimme mit einem seltsamen Akzent, den ich nicht zuordnen konnte. »Ein Pakt. Augen, um geheime Dinge zu sehen.«
    »Und was … was hast du im Tausch dafür gegeben?«
    »Die Augen, die ich vorher hatte.«
    Ich merkte, dass sich mir der Kopf drehte. Wie konnte man sich so etwas auch nur vorstellen ?
    »Mit wem hast du diesen Pakt geschlossen?
    Er presste fest die Lippen aufeinander und riss die Augen dabei weit auf. »Ich werde seinen Namen nicht aussprechen. Nie mehr.«
    »Wie stellst du es an, dich inmitten von Menschen aufzuhalten? Trägst du eine dunkle Brille?«
    »Nein, nein. Sie … merken es nicht.«
    »Wie ist das möglich? Sehen sie dir nie in die Augen?«
    » Du siehst, sie sehen nicht.«
    Ich schüttelte den Kopf: Fing er schon an, in Rätseln zu sprechen? »Ich verstehe nicht. Was soll das heißen.«
    »Du hast uralte Augen, die es gewohnt sind, wahrzunehmen. Die Menschen … Sie sehen nicht. Es interessiert sie nicht, zu sehen, nein. Und die Dinge, die man nicht ansieht, die gleiten weg … in den Augenwinkel.«
    Mein Kopf fuhr ruckartig hoch. In den Augenwinkel! »Ich … habe angefangen, Dinge zu sehen, und zwar aus dem Augenwinkel. Dinge, die die anderen Leute nicht sehen.«
    Der Mann nickte.
    Vielleicht fing ich wirklich an, zu verstehen. »Es ist so, dass man euch nicht sieht, auch wenn ihr mitten unter den Menschen seid: Ihr gleitet sozusagen aus dem Blickfeld der Menschen, die euch ansehen.«
    Er nickte wieder.
    »Aber als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gespürt, wie meine Augen brannten.« Mir fiel wieder das Mädchen mit den Blumen in den Haaren ein. »Und es war mir schon einmal passiert. Bist du es gewesen, der das bewirkt hat?«
    Er fing wieder an, zu zittern. »Ich hatte Angst! Man macht das so, wenn man gesehen wird: Nebel in die Augen. Nebel und Tränen. Um flüchten zu können.«
    Ich führte eine Hand an meine Stirn. Jede seiner Antworten füllte meinen Kopf mit hundert neuen Fragen, und ich hatte wenig Zeit und wurde nur noch verwirrter.
    »Wer sind die schwarzen Männer, die ich auf den Straßen sehe?«
    Er schluckte. »Sie haben viele Namen. Die Menschen kennen sie seit langer, langer Zeit.«
    »Aber was sind sie ?«
    Der Bettler schüttelte mit verkniffenem Mund den Kopf. Wollte er damit sagen, dass er es nicht wusste oder dass er es mir nicht sagen würde?
    »Woher kommen sie?«
    Er streckte eine Hand aus, die Handfläche nach unten gewandt. »Von unten.«
    »Von unten?«
    Er nickte. »Sie bleiben unten, wenn sie können. Sie mögen das Licht nicht. Es macht, dass es ihnen schlecht geht.«
    Deshalb also schienen die vier,

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