Die zwei Monde: Roman (German Edition)
die ich in jener Nacht getroffen hatte, so in ihrem Element zu sein und konnten so fließend und gewandt dahingleiten.
»Und doch ist der, dem ich bis hierher gefolgt bin, tagsüber ausgegangen.«
»Er hat etwas gebraucht.«
»Von dir?«
»Ja. Ab und zu … besorge ich Dinge für sie.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr darüber wissen wollte. Und vor allem war da noch eine weitere Frage, die mir unter den Nägeln brannte. »Sind sie gefährlich?«
Die Antwort war nur ein Murmeln. »Ja.«
Ich zwang mich, konzentriert zu bleiben und meine Angst zu ignorieren. »Da ist noch etwas, das ich gesehen habe … Eine Person. Ein Mädchen mit Blumen in den Haaren. Kennst du auch sie?«
Er zögerte mehrere Sekunden, dann nickte er.
»Wer ist das? Warum folgt sie mir?«
»Ich kenne ihren Namen nicht.«
»Aber ist auch sie eine …« Ich wusste nicht, welche Worte ich benutzen sollte. »Eine wie ihr . Eine, die sich vor den Augen der Leute verbirgt.«
»Ja.«
»Ich habe sie letzte Nacht gesehen. Die schwarzen Männer haben versucht, sie anzugreifen.«
Die Hände des Bettlers fingen wieder an, zu zittern.
»Ich habe mit ihnen gesprochen: Sie sagten, sie wollten sie mitnehmen, unter die Erde. Ist auch sie eine von ihnen?«
»Nein! Sie ist menschlich. Wie ich. Wie du. Aber sie hat mit ihnen gelebt. Daher wollen sie sie zurückhaben. Sie hätte sich nicht nachts herumtreiben sollen. Zu gefährlich, zu gefährlich!«
»Warum folgt sie mir?«
Der Mann schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!« Er blickte wie im Fieber die Straße hinunter, von einer Seite zur anderen; es war unglaublich, wie deutlich die Gefühle in diesen Augen zu lesen waren, obwohl sie doch nichts Menschliches an sich hatten. »Lass mich gehen, ich bitte dich! Ich bitte dich!«
Urplötzlich schien er wieder von einer panischen Angst befallen zu sein. Angst vor mir oder vor etwas anderem?
»Wenn ich dich jetzt gehen lasse, werde ich dich dann in den nächsten Tagen noch hier finden? Ich muss noch andere Dinge wissen. Viele Dinge.«
Er nickte heftig, aber zum ersten Mal zweifelte ich an seiner Ehrlichkeit. Andererseits, was konnte ich tun, um ihn zu halten?
»Sag mir nur noch eine Sache. Eine einzige nur.« Der Mann war aufgestanden und stand jetzt mit den Schultern gegen die Wand gepresst, die Augen starr auf mich gerichtet. »Du hast gesagt, dass … ich alte Augen habe. Was bedeutet das? Was passiert mit mir?« Ich versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Was siehst du, wenn du mich anschaust?«
Soweit das überhaupt möglich war, schien er noch bleicher zu werden. »Ich sehe den Herrn der Wälder, den Alten, der durch die Nacht läuft! Ich wusste, dass du zurückgekehrt bist. Alle wissen es. Sie werden kommen und nach dir suchen. Aber ich werde es niemandem sagen, ich schwöre, ich schwöre! Lass mich gehen!«
Ich trat einen Schritt zurück, und er schoss an mir vorbei wie ein Aal, der sich aus dem Netz gewunden hat.
Ich stand da und sah ihn verschwinden, aber diesmal nicht im Nichts, sondern rennend und stolpernd wie ein ganz normaler, zu Tode erschrockener Sterblicher.
K apitel 10
Samstag, 14. Februar
Z u behaupten, dass ich ganz benommen zu Hause ankam, würde nicht mal ansatzweise den katastrophalen Zustand wiedergeben, in dem ich mich befand. Meine Mutter erwartete mich in der Tür, ernster als ich sie jemals zuvor gesehen hatte. Das Essen, das sie mir nach der Begrüßung vorsetzte, rührte ich kaum an. Wenig später kam mein Vater in die Küche, fixierte mich mit seinen Geieraugen und fragte, wie es mir ginge; ich erwiderte, es ginge mir blendend, verschwand in mein Zimmer und verbarrikadierte mich dort. Sie würden sicherlich denken, dass ich nicht essen wollte, weil ich noch wütend war.
Draußen hatte sich der Tag aufgeklärt. Als ich aus dem Fenster auf die von der Sonne beleuchteten Dächer sah, bekam ich große Lust, hinauszugehen, durch die Straßen zu laufen, die kalte Luft Mailands einzuatmen und vielleicht irgendwo zu verweilen. Ich könnte auf einem Mäuerchen oder einer Bank sitzen und die Menschenmenge auf den Gehwegen beobachten oder den bunten Fluss der Autos, der sich durch die Straßen wälzte. Normale Dinge einfach, die ich Tausende von Malen getan hatte. Alltägliche Dinge.
Stattdessen war ich zu Hause festgenagelt, und das am Samstagnachmittag.
In vier Wochen würde ich achtzehn Jahre alt werden: Wer hätte mich dann noch gegen meinen Willen zu Hause festhalten
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