Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Titel, nahm etwa ein Dutzend Bücher heraus und blätterte darin, bis ich schließlich einen Band fand, der mir für meine Zwecke geeignet schien. Ich nahm in mit und kehrte lautlos in mein Zimmer zurück. Traumyoga und die Praxis des natürlichen Lichtes stand auf dem Titel, und er war geschrieben von einem tibetischen Meister mit einem unaussprechlichen Namen.
Es war ein kleines Buch – auch das war ein Grund für meine Wahl – und ich hatte es in ein paar Stunden ausgelesen: Im Großen und Ganzen erklärte es, wie man die eigenen Träume kontrolliert und deren »volles Potenzial« (was immer das auch bedeuten mochte) durch Übungen aktiviert, die auf der Visualisierung von Symbolen und der Kontrolle des Atems basieren. Ich grinste und verdrehte die Augen, wie bei den meisten Dingen, für die sich meine Mutter begeisterte, aber als mir einfiel, was ich in der letzten Woche erlebt – und getan – hatte, verging mir das Lachen.
Am Ende der Lektüre war ich vollkommen erschöpft. Wenn ich mich umsah, erschien mir mein Zimmer kleiner und erdrückender denn je: Ich musste raus und zwar sofort!
Draußen wurde es schon dunkel. Ob das Schwimmbad wohl auch am Samstag offen hatte? Auf der Homepage der Stadt stellte ich fest: Es hatte. Fünf Minuten später stand ich in Lederjacke und mit dem Rucksack mit den Badesachen über der Schulter in der Wohnzimmertür. Meine Mutter war gerade dabei, ihre zahlreichen Pflanzen zu gießen.
»Ich geh schwimmen.«
Ich hatte es in einem herausfordernden Ton gesagt, und sie drehte sich sofort zu mir um. Ich hatte einen strengen und misstrauischen Blick erwartet, den Blick eines Menschen, der denkt, dass ich diese Gelegenheit nutzen würde, um zu flüchten und nie mehr zurückzukommen. Stattdessen sah sie mich über ihre Brillengläser hinweg mit einem Ausdruck an, der mich unweigerlich an Irene erinnerte, und sie lächelte. Ein kleines Lächeln.
»Gut. Aber sei um sieben zurück.«
Ich war so verwirrt, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Also nickte ich nur und ging hinunter auf die Straße.
Während ich meine Schritte in Richtung Metro lenkte, rief ich Irene an. Sie nahm erst nach mehreren Klingeltönen ab.
»Und, wie ist es ausgegangen mit deinem Andrea?«
»Wie ich gesagt hatte. Und zwar Wort für Wort.«
»Und jetzt?«
Ein langer Seufzer. »Ich werde tun, was ich tun muss.«
»Wie geht’s dir?«
Sie senkte die Stimme. »Ich kann nicht sprechen, meine Mutter steht neben mir. Sie hat mich in die Stadt geschleppt, um ein neues Kleid für heute Abend zu kaufen …«
Ach was, das konnte man nun aber wirklich Pech nennen.
»Ich ruf dich an, sobald ich mich befreit habe«, fügte sie schnell und immer noch flüsternd hinzu, »du kannst mir dann ja sagen, ob du gerade sprechen kannst.«
»Gut. Allerspätestens sprechen wir uns dann morgen auf MSN . Also, Kopf hoch! Ciao.«
»Ciao.«
Im Schwimmbad war viel mehr los als sonst; da Samstag war, hätte ich mir das eigentlich denken können. Ich hatte noch nie was für Menschenmassen übrig und war nicht gerade begeistert über die Überraschung. Im Umkleideraum zögerte ich und war schon halb versucht, einfach kehrtzumachen und mein Stündchen Ausgang für einen heimlichen Spaziergang durch die Stadt zu nutzen. Aber draußen war es schon dunkel, und obwohl es ein sonniger Tag gewesen war, schien es genauso kalt zu sein wie in den vergangenen Tagen. Also ging ich auf das übliche Regal zu, um meine Tasche zu deponieren, machte dann aber nochmals kehrt und schloss meinen Rucksack in das erstbeste freie Schließfach ein. Ich warf einen Blick auf meine Hand: Das Mal von dem Kontakt mit dem Eisenhut war verschwunden, als wäre es nie da gewesen.
Ich streifte meinen Badeanzug über, ging in die Schwimmhalle und steuerte auf das nächste Sprungbrett zu. Normalerweise wagte ich mich erst nach und nach ins Wasser, wie man es mir als Kind beigebracht hatte, aber heute Abend hatte ich das Bedürfnis, sofort ins kalte Wasser zu springen.
»Du hattest doch gesagt, dass du samstags nicht kommst.«
Die Stimme kam von hinten, aber ich erkannte sie sofort.
»Nein, ich hatte nur gesagt, dass das sehr unwahrscheinlich ist.«
Ich hörte ihn lachen und wandte mich um. Ivan war gerade aus dem Wasser gestiegen und stand fünf Schritte von mir entfernt; seine Brust hob und senkte sich leicht und von der bernsteinfarbenen Haut über seinen Muskeln perlten noch die Tropfen herunter. Ich wollte noch etwas hinzufügen, ich weiß nicht mehr
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