Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Kissen versinken. Ich war bei Bewusstsein und bemerkte sofort, dass etwas nach mir rief und versuchte, meine Aufmerksamkeit zu wecken. Es war nicht im eigentlichen Sinne eine Stimme: Vielmehr glich es eher einem Gefühl der Not, einer drängenden Bitte, ihm Gehör zu schenken.
Es war ein vielgestaltiger Ruf, der aus verschiedenen Richtungen zu kommen schien: Ich mühte mich um eine Unterscheidung und Zuordnung, aber ohne Erfolg. Einer schien viel näher als die anderen, aber gleichzeitig schwächer, fast gedämpft, und ich verlor ihn schnell wieder. Andere umringten mich, schienen vertraut, und ich war sicher, dass es sich um die Träume der letzten Nächte handelte. Ich zwang mich, mehr in die Tiefe zu gehen: War da nicht noch etwas anderes weiter hinten, weiter unten ?
Ich hörte einen besonders drängenden Ruf, der mir fast wie ein derber Stoß erschien: Er kam von einem abgelegenen, weit entfernten Ort, aber er rief mich mit einer Kraft, die sofort alle anderen Stimmen blasser werden ließ. Wieso hatte ich ihn nicht schon vorher gehört?
Ihm zu folgen war die natürlichste Sache der Welt: Es war genug, einfach loszulassen, und einen Moment später hatte ich schon das Gefühl, aus einer enormen Höhe in die Tiefe zu stürzen, ohne Angst dabei zu empfinden. Dann wurde ich langsamer, hielt an und nahm Bilder und Geräusche wahr. Das Licht war schwach, aber ich konnte ziemlich klar sehen: Eine Gruppe von Menschen stand im Inneren einer Art Höhle, sie war niedrig und eng und an den Wänden von Moos bedeckt.
Es waren mindestens zehn Männer, alle ziemlich jung und von einem seltsamen Äußeren: Sie hatten nichts weiter am Leib als eine Tierhaut, die um ihre Taille geknotet war, und ihre nackten Bäuche und Oberkörper schienen mit Schlamm oder vielleicht mit einem Fett von dunkler Färbung beschmiert; viele hatten es auch im Gesicht, auf der Stirn und auf den Wangen, was ihnen ein maskenhaftes Aussehen verlieh. Aber obwohl sie wild aussahen, waren es keine primitiven Menschen. Es war sehr wohl erkennbar, dass ihre Gesichter unter der Schlammschicht glatt rasiert und ihre Haare kurz geschnitten waren, wodurch sie umso fremdartiger wirkten. Einige der Männer hielten Fackeln in der Hand, deren Licht mir überhaupt erst ermöglichte, die Szenerie zu sehen.
Ich stand offensichtlich am Rande des Geschehens in der Höhle und war nur Zuschauerin. Aber gleichzeitig wusste ein Teil von mir, dass ich mit der Sache aufs Engste verbunden war, dass die dunkle Grotte und die in Häute gekleideten Männer in diesem Moment die wichtigste Sache meiner ganzen Existenz waren, was mich mit einem schmerzhaften, wilden Gefühl der Machtlosigkeit erfüllte.
Aus den Tiefen der Grotte tauchte ein weiterer Mann auf, den ich vorher nicht bemerkt hatte: Er war älter als die anderen, aber in gleicher Weise gekleidet. In der einen Hand hielt er ein blutiges Messer, mit der anderen zog er eine Tierhaut hinter sich her, die eine breite schwarze Spur hinterließ.
Zwei der Männer lösten sich aus der Gruppe und traten nach vorn: Sie waren wohl die Jüngsten, denn sie konnten nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein. Der alte Mann musterte sie streng, dann bedeutete er ihnen, näher zu treten. Er hob das Messer mit der Klinge nach vorn in die Luft, und einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, er würde sich damit auf die Jungen stürzen und sie im Gesicht verletzen; aber dieser andere Teil von mir wusste sehr genau, was vor sich ging, und fühlte nichts anderes als die Wucht einer verzweifelten Wut.
Mit einer feierlichen Geste legte der Mann die Klinge auf die Stirn des einen Jungen, und dann auf die des anderen, auf beiden eine Blutspur hinterlassend. Einer der Anwesenden trat sofort hinzu und wischte den Jungen mit einem Büschel weißer Wolle das Blut von der Stirn. Die Jungen lächelten, und die ganze Gruppe schien einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen.
Der Alte richtete das Messer nun gegen die Tierhaut in seiner Hand, schnitt zwei lange, tropfende Streifen davon ab und übergab sie den Jungen. Bei diesem Anblick spürte ich, wie in meinem Inneren eine rasende, grenzenlose Wut zu brodeln begann, die ich nur schwer mit mir selbst in Zusammenhang brachte, aber die nichtsdestotrotz wuchs und wuchs, bis sie jeden Winkel meines Bewusstseins durchdrungen hatte. Einer der beiden Jungen umklammerte kraftvoll seinen Lederriemen und wickelte ihn sich um die Fäuste; der andere ließ den seinen auf die Erde knallen
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