Die zwei Monde: Roman (German Edition)
was, aber mir verschlug es schlicht die Sprache. Und für eine Sekunde auch den Atem.
Er kam auf mich zu. »Wie geht’s?«
»Gut.«
Er sah mich an und legte den Kopf auf die Seite. »Sicher?«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ja. Und dir?«
»Kann nicht klagen, danke. Und, warum hast du dein Programm geändert und bist heute hier?«
»Ich brauchte Bewegung.« Das war wenigstens die Wahrheit.
»Das freut mich.«
»Und du? Bist du jeden Tag hier?«
»In letzter Zeit ja.« Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, das ich irgendwie beunruhigend fand. »Hast du Lust auf eine Fortsetzung unseres Wettkampfs?«
»Darauf kannst du wetten.«
Wir schwammen fünfundvierzig Minuten lang, wobei wir im Kraulen, im Rückenschwimmen, im Delfinschwimmen und sogar im Springen gegeneinander antraten. Zwischendurch machten wir immer mal wieder eine Pause, um zu Atem zu kommen, wir setzten uns an den Beckenrand und plauderten. Die Bewegung tat mir gut, und am Ende hatte ich zum ersten Mal in den letzten Tagen das Gefühl, entspannt und gut gelaunt zu sein.
Ivan wollte alles Mögliche über mich wissen, er stellte mehr Fragen, als mir überhaupt einfielen, aber sie waren nie unverschämt und immer begleitet von einem Lächeln, das ehrliches Interesse signalisierte. Ich konnte gar nicht anders als antworten. Und so erzählte ich ihm schließlich von meiner Schule, von Irene, von meiner Begeisterung für japanische Comics und von meiner Mutter, die inmitten von Weihrauchwolken durchs Haus schwebte. Als ich unser Gespräch später noch einmal Revue passieren ließ, trieb mir der Gedanke, wie seltsam und entsetzlich banal ihm mein Leben erschienen sein musste, die Schamröte ins Gesicht, obwohl ich ganz allein in meinem Zimmer war.
Von ihm selbst erfuhr ich wenig: Dass er in Mailand lebte, seit er vierzehn war, und zwar allein mit seinem Vater, einem pensionierten Geschichtsdozenten (seine Mutter erwähnte er mit keinem Wort), dass er Bogen schießen konnte – darauf hätte ich gewettet – und über Filme und Musik der Siebziger und Achtziger eine Menge enzyklopädisches Wissen und unzählige Anekdoten zum Besten zu geben wusste.
Nach dem Schwimmen waren wir völlig am Ende und erklärten unseren Wettbewerb mit einem Unentschieden für beendet (auch wenn ich bis heute vermute, dass Ivan mir mehr als einmal einen Vorsprung gewährt hat).
»Ich weiß, dass du abends keinen Kaffee trinkst«, sagte er, während wir auf die Umkleideräume zugingen, »und dass Cola dir nicht besonders sympathisch ist. Aber einen Tee kannst du doch sicherlich vertragen, oder irre ich mich?«
Ich musste unwillkürlich lächeln. »Nein, du irrst dich nicht. Gib mir eine Viertelstunde.«
Wir trennten uns am Eingang zu den Umkleiden und trafen uns in der Bar wieder. Ivan war vor mir da und wartete mit einem Buch in der Hand. Ich blieb einen Augenblick stehen, um ihn zu mustern: Er trug ein hellblaues Sweatshirt mit Kapuze und hatte sich die Haare zu einem Zopf gebunden. So machte er auf jeden Fall einen weniger wilden Eindruck als beim ersten Mal, aber von seinen pechschwarzen Augen, seinen markanten Zügen und der seltsamen Narbe auf der Wange ging etwas Undefinierbares aus, etwas Dunkles. Sobald er mich sah, blitzte jedoch sein übliches Lächeln auf, und jede Spur von Dunkelheit war wie weggewischt.
Ich trat auf ihn zu. »Was liest du denn da?«
Er drehte mir den Buchdeckel zu: Die italienische Kunst des Mittelalters.
Ich suchte nach passenden Worten. »Hast du eine Prüfung?«
»Im April. Es ist noch Zeit.«
»Ah …«
»Möchtest du etwas zum Tee dazu?«
»Nein, danke.«
»Nicht mal eine Praline?« Er wies mit der Hand zur Bar, wo ein mit Schleifen geschmückter Korb voller Pralinen in Herzchenform stand.
Plötzlich fielen mir Alex und seine Nachricht ein, und mir wurde bewusst, dass ich seit Schulschluss nicht mehr daran gedacht hatte. Sein Geschenk befand sich noch in meinem Rucksack, zwischen den Büchern und Heften, und ich hatte es nicht mal angerührt.
Ivan hörte auf zu lächeln. »Habe ich was Falsches gesagt?«
»Nein, nein.« Ich beeilte mich, ihm ebenfalls ein Lächeln zu schenken.
»Hast du denn heute schon Schokolade gegessen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein?«
»Nein.«
»Nicht mal ein bisschen?«
»Ich sage doch, nein.«
»Dann musst du aber.« Und bevor ich etwas erwidern konnte, erhob er sich, ging zur Theke und kam mit zwei Pralinen zurück. Er legte eine davon in meine Hand. »Es bringt Unglück, am
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