Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Glastür einer Bar, aus der weiches Licht fiel. Innen war es angenehm warm, und es duftete herrlich nach Kaffee und Toastbrot. Nur wenige Tische waren besetzt. Ivan zeigte auf einen der hinteren Tisch, wartete, dass ich meine Jacke ausgezogen hatte, und bedeutete mir dann, mich mit dem Rücken an die Heizung zu setzen. Anschließend gab er dem Jungen hinter der Theke ein Zeichen und bestellte einen Kaffee und eine heiße Schokolade. Wieder hatte ich weder die Kraft noch die Lust, um zu protestieren.
Er setzte sich mir gegenüber und lächelte mich an, sagte aber nichts. So blieben wir schweigend sitzen, bis der Kaffee und die Schokolade kamen: Ich sog tief das Aroma des Kakaos ein und gab mich dem wohligen Schauder hin, den man spürt, wenn die Kälte aus den Knochen zu weichen beginnt.
Ivan musterte mich aufmerksam, den Kopf zur Seite geneigt.
»Danke«, flüsterte ich.
Er holte tief Luft. »Es ist nie leicht, ein Gespräch dieser Art zu beginnen, und ich bin eine Katastrophe, wenn es darum geht, zu wissen, was angemessen ist oder nicht, aber drücken wir es mal so aus: Ich werde dir keine Fragen stellen, aber wenn du Lust hast, zu reden, dann bin ich hier und höre dir zu, und wenn es notwendig ist, werde ich bleiben bis morgen früh.«
Ich sah ihn an, sah sein Lächeln, seine schwarzen, funkelnden Augen, seine bernsteinfarbene Haut, sein Haar, in dem noch Regentropfen schimmerten, und hatte plötzlich so unbändige Lust, mich ihm an den Hals zu werfen, das Gesicht in seiner Schulter zu vergraben und bis zur Erschöpfung zu weinen.
Doch stattdessen starrte ich auf meine Schokolade und schniefte. Aber ich weinte nicht.
»Was …« Ich merkte, dass meine Stimme zitterte, und musste husten; dann atmete ich zweimal ganz tief durch. »Was würdest du machen, wenn man dir sagen würde, dass bei einer Person, die du kennst, einer Person, die du magst, gerade eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde, eine unheilbare Krankheit? Was würdest du zu dieser Person sagen?« Es war nicht wirklich die beste Art, es auszudrücken, aber im Moment fiel mir nichts Besseres ein.
Ivan schwieg, sehr ernst im Gesicht, und die Sekunden zogen sich hin. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst, etwas Falsches gesagt zu haben.
»Als ich zwölf Jahre alt war«, setzte er endlich an, »wurde bei meiner Mutter systemische Sklerodermie festgestellt. Das ist eine Autoimmunkrankheit: Es bedeutet, dass dein Immunsystem sich gegen dich kehrt. Der Körper greift sich selbst an.«
Ich starrte auf die Tischoberfläche und fühlte einen dumpfen Schmerz in der Kehle.
»Die Sklerodermie provoziert eine Bindegewebsverhärtung der Haut sowie der Oberfläche der inneren Organe«, fuhr er fort. »Die Form, an der meine Mutter erkrankte, war sehr akut: Man erklärte uns, dass es mit der Zeit für sie immer schwieriger werden würde, sich zu bewegen, zu essen, zu sprechen, sogar zu atmen. Und so ist es auch geschehen. Nach weniger als einem Jahr hatte sie dauerhaft versteifte und gekrümmte Finger, die aussahen wie Klauen, und sie konnte kaum noch den Mund öffnen.«
Er fixierte mich mit solcher Intensität, dass ich seine Augen auf mir spürte, auch ohne hinzusehen. Langsam hob ich den Blick und begegnete dem seinen.
»Aber meine Mutter gab nicht auf. Sie war keine sehr selbstsichere Frau, eigentlich war sie immer eher schüchtern und zurückhaltend gewesen. Aber sie wollte leben. Für mich, für meinen Vater, für all die Dinge und die Menschen, die sie liebte und die weiterhin Teil ihres Lebens waren, trotz der Krankheit. Sie lernte alles neu: Sie lernte neu zu gehen, trotz der verkrüppelten Stellungen, zu denen die Krankheit sie zwang, und sich mit Behutsamkeit zu bewegen, um ihr Herz und ihre Lunge nicht zu ermüden; sie lernte, in einfachen Tönen zu sprechen und sie mit ausdrucksvollen Gesten zu begleiten; sie hielt sich rigoros an eine fast flüssige Diät, die sie minutiös ausgearbeitet hatte; sie nahm Schmerzmittel, um die Krämpfe zu ertragen. Sie ließ nicht zu, dass die Krankheit die Kontrolle über ihr Leben erlangte: Vielmehr war sie es, die die Kontrolle über die Krankheit übernahm. Und so lebte sie weitere acht Jahre, bis eine unerwartete Komplikation am Herzen sie uns entriss. Aber in diesen acht Jahren lebte sie glücklich. Weil sie sich weigerte, in die Hölle hinabzusteigen und ihre Familie mitzunehmen.«
Danach herrschte Stille. Ich fühlte mich wie nach einem Schlag auf den Kopf.
»Es tut mir leid«, murmelte ich
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