Die zwei Monde: Roman (German Edition)
und …
Ich hielt inne. Wie sollte das eigentlich die nächsten Tage weitergehen? Ich konnte sicher nicht alles an einem einzigen Nachmittag bewältigen: Ich würde den Conte wieder und wieder besuchen müssen, bis alle meine Fragen beantwortet waren. Aber wie sollte ich das anstellen, angesichts meines Hausarrests? Die Ausrede mit dem Schwimmbad konnte ich ja schließlich nicht jeden Tag benutzen …
Inzwischen war mir der Appetit vergangen. Ich wartete fünf Minuten, um sicher zu sein, dass meine Mutter nichts vergessen hatte, steckte meine Notizen in die Jackentasche und machte mich auf den Weg. Bevor ich ging, fummelte ich so lange an unserem Telefon herum, bis alle Anrufe auf mein Handy umgeleitet wurden: Wenn meine Mutter aus irgendeinem Grund auf die Idee kam, zu Hause anzurufen, und mich nicht vorfand, würde mir sicher die Hölle heißgemacht.
Während ich zur Metro hinunterging, kam ich mir vor wie eine Missetäterin – ausgerechnet ich, die ich bisher keinen einzigen Tag meines Lebens die Schule geschwänzt hatte. Der heimliche Ausflug konnte mich teuer zu stehen kommen, aber welche Alternativen hatte ich schon?
Als ich beim Conte ankam, saß er vor einem seiner hohen, schmalen Fenster, rauchte Pfeife und betrachtete die zierlichen Türme des Doms, die sich vor dem bleichen Blau des Himmels abzeichneten. Das Fenster stand offen: Die Luft war eiskalt und duftete nach Tabak. Auf dem üblichen Tischchen standen zwei Teller mit je einem Stück Erdbeerkuchen.
Ich starrte ungläubig auf den Teller. Auch heute hatte der Conte mich also erwartet. Und er hatte sogar die Stunde meiner Ankunft gewusst.
Ohne die Augen von den Nadeltürmen zu wenden, lud er mich mit einem Wink ein, mich neben ihn zu setzen.
»Du bist nicht aus Mailand, nicht wahr, Veronica?«
»Nein. Ich bin in Ravenna geboren.«
Nach fünf Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, dass die Leute das sofort merkten. Mein Akzent war einfach unverkennbar.
»Hast du den Dom schon besucht?«
»Einmal, im letzten Jahr, als ich gerade angekommen war.«
»Und, was denkst du über ihn?«
Die Frage kam überraschend, und ich musste sie mir erst durch den Kopf gehen lassen. »Ich war sehr beeindruckt. Und ich finde, er wirkt sehr feierlich, sogar wenn er voller Touristen ist.«
Ich verschwieg, dass ich eigentlich kein großer Fan der gotischen Architektur war: zu viele Details, zu viele komplizierte Ecken. Sie erinnerte mich an bestimmte Comics, in denen der Zeichner versucht hatte, so viele Einzelheiten wie möglich reinzupacken, sodass man nicht mehr wusste, was man sich zuerst anschauen sollte, und darüber fast einen Drehwurm bekam.
»Erst vor Kurzem hat man die Restaurierung der Fassade abgeschlossen: Lange Zeit konnte man sie nicht mehr frei von Gerüsten bewundern. Bist du um ihn herumgegangen?«
Ich war umso irritierter. »Ja.«
»Und hast du die Statuen gesehen?«
»Ja. Es sind sehr viele.«
»Zweitausendzweihundertfünfundvierzig. Engel, Heilige, biblische Personen. Und Dämonen. Eine unglaubliche Vielzahl an Dämonen. Einige sind dargestellt, wie sie gerade ihre Opfer zerreißen oder bei lebendigem Leibe verschlingen.«
Nein, dieses kleine Detail hatte ich nicht bemerkt. Aber mir fiel ein, was ich in der Schule gelernt hatte. »Aber ist das nicht normal für die gotische Kunst? Die Fratzen, die Wasserspeier …«
Der Conte lächelte seltsam. »Eins kannst du mir glauben: In der gotischen Kunst gibt es nichts Normales .«
Erst in diesem Moment bemerkte er, dass ich meine Jacke anbehalten hatte, und stand sofort auf, um das Fenster zu schließen.
»Der Mann, der den Bau des Doms gewollt hat, hieß Gian Galeazzo Visconti und war im vierzehnten Jahrhundert der Herr über Mailand. Einer seiner Vorfahren, Matteo Visconti, war ein Magier.«
Er sagte es in einem Ton, als würde er eine einfache Tatsache verkünden.
»Inwiefern?«, versuchte ich es mit einer Frage.
»Im wahrsten Sinne des Wortes, natürlich. Er wurde sogar aus der Kirche ausgeschlossen. Er übte seine Kunst in einer Einsiedelei aus, die es heute nicht mehr gibt und die nahe bei einem der Stadttore lag. Schwarze Magie. Es hieß, er habe einen Dämon als Berater gehabt.«
Ich dachte an die schwarzen Männer im Stadtuntergrund und fühlte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. Noch vor zehn Tagen hätte ich ganz anders reagiert …
»Aber diese Dinge geschehen nie, ohne dass man den Preis dafür zahlt«, fuhr der Conte fort, indem er ein silbernes Gerät aus der
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