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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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ein?«
    »Das ist bekannt: Alle Sagen erzählen davon.« Er sah mir tief in die Augen. »Wie wird man zum Werwolf, Veronica?«
    Ich senkte den Blick nicht. Ich zwang mich, ihn nicht zu senken. »Indem man von einem Werwolf gebissen wird.«
    »Exakt.«
    »Dann ist es also wie eine Art Krankheit … Wie die Tollwut.«
    »Nein, nein, durchaus nicht. Es ist ein Symbol, ein ritueller Gestus. Jemanden zu beißen hat eine tiefe symbolische Bedeutung: Es meint, sich seiner zu bemächtigen, ihn zu besitzen, in ihn einzudringen und ihn gleichzeitig in sich selber eindringen zu lassen. Es ist der Moment, in dem Raubtier und Beute zu einem einzigen Wesen werden.«
    Ein plötzlicher Schwindel überfiel mich. Ich sank tiefer in den Sessel, bedeckte meine Augen mit der Hand und begann zu zittern. Als ich versuchte, etwas zu sagen, kam statt Worten ein Lachen aus meinem Mund, ein schriller, hysterischer Laut, der fast unmenschlich schien und mich umso mehr erschreckte.
    »Das heißt also, ich bin eines Abends auf ein Fest gegangen, habe es allein verlassen und wurde auf den Straßen Mailands von einem Werwolf angefallen? Einem Werwolf, der seit dem achtzehnten Jahrhundert unterwegs ist, oder nein, schon seit dem antiken Rom. Einem Werwolf, der eine Art prähistorische Gottheit ist. Und jetzt bin ich zu diesem Werwolf geworden?«
    Der Conte antwortete nicht. Ich hielt die Augen geschlossen, für einen Zeitraum, den ich nicht bestimmen könnte, und als ich sie wieder öffnete, traf ich den Blick der grünen Augen des Conte, die leuchtend klar waren, unbeweglich, in jene geheimnisvolle, zeitlose Ruhe getaucht, die sie nie zu verlassen schien.
    »Was wird jetzt mit mir geschehen? Werde ich mich in einen Wolf verwandeln?«
    Der Conte nickte. »Beim nächsten Vollmond. Beim ersten Mal nur für wenige Stunden, wahrscheinlich.«
    Das erste Mal? Wollte er damit sagen, dass es mit der Zeit schlimmer werden würde?
    »Und die späteren Male?«
    »Das wird von dir abhängen: davon, wie sehr du es kontrollieren kannst.«
    »Und wenn ich es nicht kontrollieren kann? Was wird passieren, wenn ich es nicht kontrollieren kann?«
    Der Conte zeigte mit einer Kopfbewegung auf das Buch, das noch auf dem Tisch lag. »Du hast gelesen, was passieren wird.«
    Ich sammelte alle meine Kräfte, um das Zittern zu beenden, um meine Muskeln zu beherrschen und sie zum Stillhalten zu bringen. Und ich stellte die Frage, die wichtiger war als alle anderen.
    »Wie lässt sich das heilen? Wie kann ich mich befreien von dieser … Sache? «
    »Indem man den Wolf auf jemand anderen überträgt. Aber nicht du bist es, die das entscheidet: Es ist der Wolf. Er entscheidet, ob und wann er von einem neuen Körper Besitz ergreift.«
    Er schwieg, und zum ersten Mal glaubte ich, in seinen Augen etwas Neues zu lesen: ein Zögern.
    »Sprechen Sie weiter«, forderte ich mit so fester Stimme, dass ich einen Anflug von Genugtuung verspürte.
    »Sind die Essenz des Menschen und die des Wolfes einmal vereint, ist es nicht leicht, sie zu trennen. Es wäre ein Schock für den schwächeren Teil, für den menschlichen also: Es wäre der Schock zu erleben, dass die eigene Seele in zwei Teile gerissen wird. Unbeschreiblich und vermutlich sogar unvorstellbar. Der Körper überlebt nicht. Niemals.«
    Ich senkte den Blick, vor meinen Augen begannen, kleine Lichter zu tanzen.
    So sah also meine Zukunft aus: Mich bei Vollmond in einen Wolf zu verwandeln, wie in einem Horrorfilm. Durch die Nacht laufen und andere Menschen anfallen. Und dann, eines Tages, einen dieser Menschen mit meinem Biss anzustecken, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, ihm den Fluch zu übertragen und selbst daran zu sterben. Wenn ich nicht schon vorher umgebracht wurde, natürlich. Wie im Finale eines Horrorfilms.
    Ich sprang auf die Füße und rannte los.
    Gegen Möbel und Gegenstände stoßend, stürzte ich durch den Museumssalon, rannte den dunklen Korridor entlang bis zur Wohnungstür und warf mich in den Aufzug, wo ich laut schreiend mit den Fäusten gegen die spiegelbedeckten Wände und das glänzende Metall der Türen schlug. Im Erdgeschoss angekommen, lief ich hinaus, hinaus auf die Straße.

K apitel 14
    Dienstag, 17. Februar

    N ach einer halben Stunde begann es zu regnen, aber ich merkte es kaum. Ich lief ziellos und in schnellem Tempo, beinahe im Laufschritt, wären da nicht die vielen Menschen auf den Straßen gewesen, die mich daran hinderten. Erst mit der Zeit wurde ich langsamer, bis mir bewusst wurde,

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