Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Etruskern, den Griechen und den Römern. Und sie fürchteten ihn sehr. Sie versuchten, ihn zu bändigen, ihn zu halten, und manchmal sogar, ihn durch Gaben zu versöhnen: Sie errichteten Altäre in den Wäldern zu seinen Ehren und boten ihm Blutopfer dar, damit er die Menschen verschone und sich nicht ihrer Körper bemächtige in den Vollmondnächten, wenn seine Macht auf dem Höhepunkt war und sein Hunger unbezähmbar. Als die römische Zivilisation ihren Anfang nahm, waren die Wolfsriten schon sehr alt, und die Römer waren klug genug, ihren Nutzen zu begreifen: Für sie war der Wolf Lupercus, die schrecklichste der Gestalten, die der Gott Faunus annehmen konnte, der Herr der Wälder. Sie weihten Priester in seinem Namen und fuhren fort, den Kult an dem Ort zu feiern, an dem er seit Menschengedenken praktiziert wurde.«
»Die Grotte«, murmelte ich. »Das Lupercal.«
Der Conte starrte mich an. »Dann hast du es also schon gewusst.«
»Ich habe davon geträumt.«
Die grünen Augen wurden einen Moment lang sehr groß. »Erzähl mir von diesen Träumen.«
Ich öffnete den Mund, um seiner Aufforderung zu folgen, ließ es dann aber. »Nein. Erst möchte ich, dass Sie meine Fragen beantworten, dann antworte ich auf die Ihren.«
Der Conte kräuselte die Lippen zu einem Lächeln. »Das scheint mir recht und billig. Wo war ich also stehen geblieben?«
»Beim Lupercal.«
»Mit der Zeit veränderten sich die Riten, sie wurden weniger wild, weniger unbeherrscht. Aber sie verloren nicht ihre Macht, denn das ist die Natur der Symbole: Ein Symbol übt eine unglaubliche Kraft aus, immer und überall, vor allem unter denen, die seine Bedeutung kennen. Die gelehrten Männer der Antike hatten die Riten des Lupercus mit Sorgfalt erdacht: Sie nährten den Gott mit Opferblut, sie sättigten ihn damit, und gleichzeitig banden sie ihn mit der Kraft ihres Opfers.«
»Die Lederriemen.«
Das Lächeln des Conte wurde breiter, anerkennend. »Genau. Und mit den Hieben dieser Lederriemen raubten sie ihm seine Macht, saugten sie aus ihm heraus und machten sie unschädlich, indem sie sie unter den Menschen verteilten.«
»Ich habe gelesen, der Lauf mit den Riemen sei ein Fruchtbarkeitsritus gewesen.«
»Es hatte auch diesen Effekt. Die Macht des Wolfes ist ursprünglich, sie vermag viele Dinge.«
Der Conte schwieg wieder, und in der Stille versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. »Ich habe auch gelesen, dass die Lupercalien abgesetzt wurden, dass die Päpste sie verboten haben.«
»Ja.«
»Und was geschah dann?«
»Dann geschah, dass der Wolf sich von seinen Ketten befreite.«
Ich fror plötzlich.
»Aber in der Zwischenzeit hatte er seine Lektion gelernt«, fuhr der Conte nach ein paar Sekunden fort. »Er wusste, dass er zwar Macht über die Menschen besaß, dass aber die Menschen ebenso Macht über ihn hatten. Er wurde vorsichtig, zurückhaltend. Aber er hörte nicht auf, die Welt der Sterblichen zu frequentieren, denn diese Welt war immer seine größte Sehnsucht gewesen, sein Traum. Hast du je geträumt, etwas anderes zu sein, als du bist, Veronica? Hast du je geträumt, nicht menschlich zu sein?«
Ich dachte nach. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Nicht bevor …«
»Mir geschah das oft, als ich jung war: Ich träumte, am Himmel zu fliegen wie ein Vogel, in den Tiefen des Meeres zu schwimmen wie ein Fisch, in der weichen Erde zu versinken mit meinen langen Wurzeln … Verzeih, ich schweife ab. In den Jahrhunderten, die auf das Römische Reich folgten, tauchte der Wolf viele Male auf, an den Rändern der menschlichen Existenz: Und im Mittelalter wurden daraus unsere Legenden von Formwandlern und Werwölfen. Aber mit der Zeit geschah, was immer geschieht: Die Menschen vergaßen. Es kam das Zeitalter der Aufklärung, des Rationalismus, und was jahrtausendelang erschreckende Wahrheit gewesen war, wurde nun zu einem Märchen für Kinder. Aber der Wolf vergaß nicht.«
»Sie wollen mir also damit sagen, dass diese Kreatur noch 1792 existierte. Dass sie es war, die die Leute in den Dörfern bei Mailand angefallen hat.«
»Es war eine Manifestation von ihm, wenn wir das so nennen können. Der Wolf ist ewig, wie alle Archetypen. Aber er kann sich in irdischem Fleisch manifestieren: Er zieht menschliche Körper vor, natürlich, aber ab und zu begnügt er sich auch mit Tierleibern, für eine kurze Zeit.«
Ich schluckte und zwang mich, die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge lag. »Und wie … wie tritt er in diese Körper
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