Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
Frühstück fing er an, mir die Insel zu zeigen. Er kannte
jeden einzelnen Quadratzentimeter, Hügel, Wald, Buschland und Bergschlucht,
Küstenstreifen und Sumpf. Wo
die Ziegen grasten, wo Kräuter und Beeren wuchsen, wo die Vögel nisteten — er
wußte alles. Wo die Erde gut war, hatte er hier und da ein verstecktes kleines
Gemüsebeet, wie ein Eichhörnchen seine Nußvorräte.
„Das Land ist gut hier. Man
könnte ein Heer von seinen Gaben ernähren. Aber niemand ist hier außer dir und
mir.“
So dachte er. Doch nicht lange.
Wir gingen jeden Tag einen
anderen Weg. Südwestwärts das Tal hinauf bis zum Fuß des „Fernrohrs“, dem
höchsten Gipfel der Insel. Südwärts durch die Eichen- und Kiefernwälder und um
die Moore herum zur Skelett-Insel oder der Küste folgend westwärts zum
„Matrosenkopf“. Er zeigte mir, wo die Hispaniola gelegen hatte, die Palisade, wo sie gekämpft
hatten, die Überreste des Lagers, wo sie gezecht hatten, die Gräber, wo die
Toten lagen.
Er sprach die ganze Zeit mit
mir, als kennte ich alles so gut wie er. Und auf eine Weise tat ich das ja,
doch wie sollte er das wissen? Doch es gab zwei Stellen, zu denen er mich nie
führte, obwohl ich ahnte, wo sie lagen. Die eine war das Versteck, wo die
Dublonen vergraben gelegen hatten, die andere der Schwarze Felsen, wo das
Silber gelegen hatte. Es war nicht allein Verschlagenheit, obwohl er auch davon
eine Portion hatte. Dick hatte Angst vor etwas oder vor jemandem, vielleicht
vor sich selbst. Am Abend ging er manchmal fort in den Bug und betete. Ich
weiß, was die Methodisten meinen, wenn sie vom „Ringen mit Gott“ sprechen. Sein
dunkles Gesicht verwandelte sich in bleiches Grau, und der Schweiß strömte ihm
über die haarige Brust. Danach war er kraftlos und niedergeschlagen und belebte
sich erst wieder, wenn ich ihm einen kleinen Becher von seinem eigenen Grog
gab.
Ich lernte, in jenen Nächten
vorsichtig zu sein, denn er wand sich in Alpträumen, sprang auf und zündete die
Lampe an, durchsuchte das Schiff von vorn bis achtern und befahl Tom und Ben,
sich zu bewaffnen. Eines Nachts weckte er mich, zerrte mich beim Hemd hoch und
suchte mein Gesicht mit der Laterne ab, so daß er mich blendete.
„Jim Hawkins, was hast du vor?
Tom Morgan hatte recht, wir hätten dich umlegen sollen.“
Ich wehrte ihn ab. „Dick, es
ist nur der kleine Tommy Carter.“ Ich begriff, daß mein Kommen ihn aus dem
Gleichgewicht gebracht hatte. Armer, alter Kerl, er hatte mit seinen
Kindheitserinnerungen in Frieden gelebt. Ich hatte die späteren, häßlicheren zu
ihm zurückgebracht.
Aber ich wußte nicht einmal die
Hälfte.
Am nächsten Sonntag beim
Gottesdienst brachte ich zwei ganze Verse von „Alle Menschen, die auf Erden
leben...“ zusammen. Es war ein großes Ereignis. Beim Abendessen war er in
bester Stimmung, und das wirkte ansteckend auf Tom Morgan und Ben Creech. Sie
scherzten und spannen Seemannsgarn, manches schockierte Dick, und er redete
streng mit ihnen.
Und in den frühen Morgenstunden
legte er mir die Hand auf den Nacken und weckte mich. Tränen strömten über sein
Gesicht. „Tom. Du hast dich an den Choral erinnert. Du bist ein Christ.
Erinnere dich an Offenbarung 22, Vers 12. Ich flehe dich an.“ Ich rappelte mich
auf.
„Dick, was soll das Getue wegen
eines Verses. Du kennst die Bibel von einem Ende zum andern.“
Er fummelte in dem alten
Beutel, den er über der Schulter trug, und fischte seine Bibel heraus, die
voller Eselsohren und mit einem Bindfaden zusammengehalten war.
„Schau, Tom, in Vers 19 heißt
es: ,Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des
Buches dieser Weissagung, dann wird Gott ihm das Anrecht wegnehmen, auf den
Bund des Lebens und auf die Heilige Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben
steht.“ Das ist deutlich genug, oder nicht?“
„Ich denk’ schon.“
„Nun, dann schau, was mit Vers
12 passiert ist.“ Er fummelte an dem alten Buch herum, und der Rücken fiel ab.
In die letzte Seite war unordentlich ein Loch in der Größe einer Münze
geschnitten worden.
„Das war ich, Tom. Von all den
verderblichen Dingen, die ich in meinem Leben getan habe, hat Er mir alles
vergeben außer diesem einen. Hab’s getan, um Silver eins auszuwischen. Hab’s
getan, um ihm den warnenden Schwarzen Fleck zu geben. Doch vor Gott macht das
keinen Unterschied. Bevor du nicht dies Papier an seine alte Stelle bringst,
Dick Johnson, sagt Er, kommst du nicht ins Paradies. Ich flehte ihn an, ob es
genug
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