Die zweite Frau des Arztes (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Ihnen damit geholfen, indem Sie sich aufgespalten haben. Sie also praktisch symbolisch geflüchtet sind. Sie haben Ihr verwundbares Selbst geschützt, indem Sie härtere innere Helfer geschaffen haben, die traumatische Situation zu bewältigen. Kommen extreme Stresssituation auf Sie zu, übernimmt eine der in Ihnen wohnenden Helfer die Führung und Sie tun etwas, an das Sie sich als Eva nicht mehr erinnern können.“
Eva nickte nachdenklich.
„Ich weiß nicht“, schloss Wolf, „wie viele Personen in Ihnen wohnen, und die Zeit ist zu knapp, um sie alle einmal herauszuholen, wenn es überhaupt gelingt. Aber unter Hypnose funktioniert das ganz gut.“
Wolf öffnete seine Aktentasche und holte einige Taschenbücher heraus, die er auf den Tisch legte.
„Ich dachte mir schon, dass Sie das Thema interessiert, und ich habe nicht die Zeit, sie ausführlich genug darüber zu informieren, deshalb habe ich Ihnen Literatur über dieses Krankheitsbild mitgebracht. Lesen Sie es sich durch, dann wissen Sie in etwa, wovon ich rede.“ Als er ihr Gesicht sah, fügte er hinzu. „Natürlich nur, wenn Sie möchten.“
Eva saß starr wie eine Salzsäule und blickte die Bücher an wie einen Widersacher. Ihre Hände hielt sie gefaltet, während ihre Daumennägel sich in die Handflächen arbeiteten.
„Multipel“, murmelte sie „und deswegen ...“
„ Wie ich schon sagte, Eva, es kommt zu Zeitverlust, wenn eine Ihrer Spaltpersonen heraustritt und die Führung übernimmt. Sie verlieren diese Zeit, wissen nicht mehr, was unterdessen geschehen ist. So wird es Ihnen wahrscheinlich auch bei der Tötung von Dr. Seitz ergangen sein. Der Sex bei Ihnen als Eva, vermute ich, funktioniert solange gut, wie sie sich bewusst sagen, ich will das jetzt, dann können Sie es durchziehen, weil Sie ein Ziel haben. Dieses oder jenes mit Sex erreichen möchten. Und es gibt vermutlich eine andere Person, die herauskommt, wenn Sie sich sexuell bedroht fühlen und unter Druck geraten. Vor allem, wenn es von Ihnen verlangt wird, wie es bei der kleinen Eva war. Als Recht gefordert, eine Erwartungshaltung vorliegt, wie das bei Dr. Seitz an dem besagten Abend unter anderem gewesen ist. Ihre Spaltperson war sogar derart überzeugt, das Richtige getan zu haben, dass Sie sich noch neben ihr Opfer ins Bett gelegt hat. Doch morgens aufgewacht sind wieder Sie. Deshalb können Sie sich nicht erinnern. Sie haben die Zeit dazwischen nicht als Eva miterlebt. Somit haben Sie diese Zeit verloren.“
Eva hatte sich während seiner Worte zurückgelehnt, nun bohrten sich ihre Augen in seine. Wolf schien es, als suchen sie zu erforschen, was hinter seiner Stirn vorging.
„Und das glauben Sie alles wirklich, was Sie mir da erzählen?“
„ Nun, die fachlichen Meinungen spalten sich, was multiple Persönlichkeitsstruktur angeht, in zwei Lager, aber die Tendenz geht doch zusehends in Richtung Befürwortung des Krankheitsbildes.“
„ Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist alles, an das ich mich nicht erinnern kann, aber dennoch irgendwie weiß, da war was, nicht von mir als Eva, sondern von jemand anderem in mir getan worden?“
„ So könnte man es auf einen einfachen Nenner bringen.“
„ Das ist mir alles zu viel. Eigentlich möchte ich mich nur noch mit Dr. Bischoff beschäftigen.“
„ Eva, ich kann mich nur wiederholen. Es ist nichts erwiesen. Er kann genauso gut völlig unschuldig sein. Verrennen Sie sich nicht.“
Wolf dachte an Anke. Sie hatte ihn gewarnt. Abrupt stand Eva auf und schritt zum Fenster. Eine Weile starrte sie durch die Gitterstäbe in den grauen Himmel. Wolf beobachtete sie besorgt von seinem Platz aus, wartete, bis sie sich ihm wieder zu drehte.
„Ich war es vielleicht doch“, begann sie, „als ich an dem besagten Abend voller Sorge zum Haus gefahren bin, habe ich doch sofort gewusst, wo sie liegt, erinnern Sie sich? Wie hätte ich das denn wissen können, wenn ich es nicht selbst war, die sie da hinunter befördert hat?“
„ Haben Sie vergessen, Eva? Sie sind aus Ihrer Bewusstlosigkeit aufgewacht und haben Ihre Mutter nach einigem Suchen dort gefunden. Das hat Ihr Gehirn gespeichert, bevor Sie den Kopf verloren. Als Sie nach Tagen wieder hin sind, hat Ihr Unterbewusstes Sie sofort an die richtige Stelle geführt. Das heißt noch lange nicht, dass Sie auch die Täterin sind.“
„ Womöglich habe ich meinen Mann auch nicht getötet?“
„ Eva.“
Es klang wie eine Mahnung. Sie blickte in die Innenfläche ihrer rechten
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