Die zweite Haut
Kreditberater hatten. Die Bank war kein höhlenartiges, marmorgetäfeltes Denkmal für den Mammon mit gewaltigen dorischen Säulen und einer Gewölbedecke, sondern ein vergleichsweise kleines Bauwerk mit schalldämpfenden Platten an der Decke und einem schmutzabweisenden grünen Teppichboden. Paige und die Kinder hielten sich nur knapp zwanzig Meter von ihm entfernt auf und waren die ganze Zeit über deutlich sichtbar, trotzdem gefiel es ihm nicht, daß er auch nur die kurze Strecke von ihnen getrennt war.
Die Kassiererin war eine junge Frau – Lorraine Arakadian, wie das Namensschild an ihrem Fenster verriet –, deren runde Hornbrille ihr das Aussehen einer Eule verlieh. Als Marty ihr sagte, daß er siebzigtausend Dollar von ihrem Sparbuch abheben wollte – auf dem sich über vierundsiebzigtausend befanden –, verstand sie ihn zuerst falsch und dachte, er wollte die Summe auf das Girokonto übertragen. Als sie das Formular für den Übertrag vor ihn legte, stellte er die Angelegenheit richtig und bat darum, daß sie ihm den ganzen Betrag wenn möglich in Hundertdollarscheinen geben sollte.
Sie sagte: »Oh. Ich verstehe. Nun … so eine große Transaktion übersteigt meine Befugnis, Sir. Ich muß die Genehmigung des Chefkassierers oder der stellvertretenden Geschäftsführerin einholen.«
»Na klar«, sagte er unbekümmert, als würde er jede Woche derartige Summen abheben. »Ich verstehe.«
Sie ging zum gegenüberliegenden Ende des langen Kassenabteils und unterhielt sich mit einer älteren Frau, die Dokumente in einer Schublade einer langen Reihe von Aktenschränken studierte. Marty kannte sie – Elaine Higgens, die stellvertretende Geschäftsführerin. Mrs. Higgens und Lorraine Arakadian sahen Marty an, dann steckten sie die Köpfe zusammen und unterhielten sich wieder.
Während er auf sie wartete, behielt Marty die nördlichen und südlichen Eingänge des Bankgebäudes im Auge, wobei er sich bemühte, gelassen auszusehen, obwohl er befürchtete, der Andere könnte jeden Augenblick durch die eine oder andere Tür hereinkommen, dieses Mal allerdings mit einer Uzi bewaffnet.
Die Phantasie des Schriftstellers. Vielleicht war sie doch kein Fluch. Wenigstens nicht ausschließlich. Vielleicht konnte sie sich manchmal als Werkzeug zum Überleben erweisen. Eines stand fest: Selbst die ausschweifendste Phantasie eines Schriftstellers hatte heutzutage Schwierigkeiten, mit der Wirklichkeit Schritt zu halten.
Er braucht mehr Zeit, als er eingeplant hat, um Nummernschilder zu finden, die er gegen die des gestohlenen Toyota Camry eintauschen kann. Er hat zu lange geschlafen und viel zuviel Zeit damit vergeudet, sich vorzeigbar zu machen. Jetzt erwacht die Welt ringsum, und der Vorteil nächtlicher Abgeschiedenheit, der den Austausch leicht gemacht hätte, ist dahin. Große, parkähnlich angelegte Apartmentkomplexe mit schattigen Parkplätzen und einer Vielzahl von Fahrzeugen würden die ideale Gelegenheit für ihn bieten, aber als er sie nacheinander abklappert, sieht er zu viele Bewohner, die schon auf den Beinen und zur Arbeit unterwegs sind.
Schließlich wird seine fleißige Suche auf dem Parkplatz hinter einer Kirche belohnt. Es findet ein Frühgottesdienst statt. Er kann Orgelmusik hören. Kirchgänger haben vierzehn Autos abgestellt, unter denen er wählen kann, kein großes Gefolge für den Herrn, aber für seine Zwecke ausreichend. Er läßt den Motor des Camry laufen, während er nach einem Auto sucht, in dem der Besitzer die Schlüssel stecken gelassen hat. Im dritten, einem grünen Pontiac, baumelt ein ganzer Schlüsselbund am Zündschloß.
Er schließt den Kofferraum des Pontiac auf und hofft, daß er zumindest einen Werkzeugkasten mit einem Schraubenzieher findet. Da er den Camry kurzgeschlossen hat, besitzt er auch keine Schlüssel für den Kofferraum. Wieder hat er Glück, ein vollständiger Kasten für Notfälle liegt vor ihm: Warnleuchten, Erste-Hilfe-Zubehör und ein Bündel Werkzeuge, in dem auch vier verschiedene Schraubenzieher enthalten sind.
Gott ist mit ihm.
Binnen weniger Minuten tauscht er die Nummernschilder des Camry gegen die des Pontiac ein. Er verstaut das Werkzeug wieder im Kofferraum des Pontiac und den Schlüsselbund am Zündschloß.
Als er zum Camry geht, schwillt die Kirchenorgel zu einem Psalm an, mit dem er nicht vertraut ist. Daß er den Titel des Lieds nicht kennt, ist nicht überraschend, da er sich nur an ins gesamt drei Besuche in Kirchen erinnern kann. In zwei Fällen
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