Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
war das einzige, was mir noch zu tun blieb.«
Er meinte es ernst, mehr noch, es war seine tiefste innere Überzeugung, und so traf ihn Helens Reaktion völlig unerwartet: Sie lachte, lachte ihn einfach aus wie einen kleinen Jungen! Erschrocken und verletzt musste der Kapitän mit ansehen, wie ihr Körper von konvulsivischem Gelächter geschüttelt wurde, in dem dennoch keine Spur von Fröhlichkeit lag.
Was ist denn los mit dir? wollte er fragen, als etwas geschah, das ihm die Worte auf der Zunge ersterben ließ.
Helens Gesicht zerriss. Ihre helle Haut platzte auf wie eine zu straff gespannte Membran und machte Platz für etwas anderes – ein dunkles, fast schwarzes Greisinnengesicht, plattnasig, mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einem breitlippigen, weit au fgerissenen Mund, der den Blick auf weiß blitzende Zahnreihen freigab. Noch entsetzlicher waren jedoch die Laute, die das Geschöpf ausstieß – eine Mischung aus Heulen, Winseln und Schmerzensschreien, fern jeder Menschlichkeit und jeder Hoffnung. Der Kapitän hörte diese Schreie nicht nur, sie durchdrangen sein Bewusstsein und jeden einzelnen seiner Nerven, und es gab auch keinen Ort, nirgendwo in diesem Universum, an den er hätte vor ihnen entfliehen können.
Nach ihrem Gesicht zerfiel auch H elens Körper, verlor seine Farbe und Struktur und schrumpfte zu einem schattenhaften Etwas zusammen, zu dem sich schließlich auch die schreiende Monstrosität verlor und mit ihm verging.
Der Kapitän hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und wagte erst wieder den Blick zu h eben, als auch das letzte Echo des unmenschlichen Geheuls verhallt war.
Helen war verschwunden, und dieses Mal blieb auch das vertraute G eräusch sich entfernender Schritte aus. Die Erleichterung, die der alte Mann zunächst empfunden hatte, verflog und machte einer dumpfen Traurigkeit Platz.
Er hatte Helen noch einmal verl oren, und diesmal vielleicht für immer ...
Helen kam nicht zurück, dafür erhielt der Kapitän tags darauf unerwarteten Besuch. Es war Simon, ein blasser schüchterner Junge, der vor einer halben Ewigkeit mit ihm zur Schule gegangen war und nur zwei Straßen weiter gewohnt hatte. Er war mit zwölf Jahren an einer seltenen Infektionskrankheit gestorben, die ein Tourist aus Patonga eingeschleppt und damit eine lokale Epidemie ausgelöst hatte, die bei den meisten Infizierten jedoch glimpflich verlaufen war. Simon, den sie wegen seines blonden Haarschopfes Alemão, den Deutschen, nannten, war eine der wenigen Ausnahmen, und ehe die Behörden das benötigte Serum eingeflogen hatten, war er im Krankenhaus der Barmherzigen Mütter gestorben. Zum Begräbnis waren nur seine Eltern, eine Handvoll Verwandter und ein paar Jungen aus der Nachbarschaft gekommen. Sie waren ein paar Tage lang traurig gewesen, und dann hatten sie Simon vergessen, denn Krankheit und Tod waren Dinge, die nicht in das Leben zwölfjähriger Jungen gehörten.
Simon hatte sie jedoch nicht ve rgessen, wie sich jetzt zeigte, vielleicht weil die Streifzüge ihrer damaligen Clique durch die Gassen von Porto Negro das Aufregendste gewesen waren, das er in seinem kurzen Leben kennen gelernt hatte. Bei seinem ersten Besuch hatte er dem Kapitän ein halbes Dutzend Namen genannt und sich aufgeregt erkundigt, was aus den Betroffenen geworden war. Der alte Mann hatte ihm die gewünschten Auskünfte schuldig bleiben müssen und war erst hinterher ins Grübeln gekommen. Eigentlich hätte Simon die Antworten kennen müssen ...
Diesmal schien der Junge jedoch e twas anderes auf dem Herzen zu haben: »Es geht ihr nicht gut, seitdem sie wieder zurück ist.« Es war klar, wen er meinte, und die Frage dahinter stand unausgesprochen im Raum. Für einen Zwölfjährigen offenbarte Simon erstaunliches diplomatisches Geschick.
»Du meinst Helen, nicht wahr?«
Der Junge nickte und senkte den Blick. Er fühlte sich offensichtlich unwohl.
»Hat sie darüber gesprochen?«
»Nein, aber sie ist anders als sonst – traurig.«
»Ist es nicht normal, dass Menschen hin und wi eder traurig sind?« Der Kapitän kam sich ein wenig schäbig vor bei dieser Frage, aber wie sollte er sonst etwas über die Natur dieses Ortes herausfinden?
Der Junge dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf: »Nein, hier ist niemand traurig. Wir h aben ja die anderen. Aber sie will sich nicht helfen lassen. Das ist nicht gut.«
»Vielleicht möchte sie nur ein w enig allein sein?«
»Das geht nicht«, erwiderte der Junge
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