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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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inzwischen das Gerät eingeschaltet. Er drehte so lange an den Knöpfen, bis das Zeitzeichen von Big Ben ertönte. Gerald teilte ihm die Koordinaten mit. Er diktierte ihm eine kurze Nachricht, die Leary verschlüsselte und dann nach Kufra funkte.
    »Hol uns ein bisschen Swing rein, Weary«, sagte einer. Die anderen stimmten ihm zu. Etwas Musik vor dem Schlafen war in der Wüste fester Brauch. Mit seinem Gerät von 4,2 bis 7,5 MHz konnte Leary die meisten Kurzwellensender empfangen. Nach ein wenig Suchen stieß er auf Glenn Millers Band, die gerade »In the Mood« spielte. Clark holte den Rumtopf heraus und bot jedem einen Schluck gegen die Kälte an. Den lehnte keiner ab.
    Dann sang Peggy Lee, begleitet vom Benny-Goodman-Sextett ihren neuesten Hit »Full Moon«. Über ihnen zog die Silberscheibe majestätisch durch das Sternenmeer, durch die 28 Mondhäuser, durch al-Hak’a, al-Han’a und al-Dhira, ferne Sterne und Planeten, denen die Araber vor Jahrhunderten diese Namen gegeben hatten. Als der Song zu Ende war, suchte Leary weiter und stieß auf Radio Belgrad. Ohne ein Wort zu verstehen, ließen sie einen Schwall deutscher Propaganda über sich ergehen. Dabei wusste jeder, worauf sie warteten. Und sie wurden nicht enttäuscht. Plötzlich knackte und rauschte eine Schallplatte, dann ertönte auf den Radiowellen die volle Stimme von Lale Andersen, dem deutschen Soldatenengel:
    Vor der Kaserne
    Vor dem großen Tor
    Stand eine Laterne
    Und steht sie noch davor …
    Wie einst Lili Marlen
.
    Obwohl es die verschiedensten englischen Versionen dieses Liedes gab, war das deutsche Original die Hymne aller britischen Truppen in der Wüste. Manch einer summte mit, die anderen hörten schweigend zu. Die Wüste schluckte Musik und Stille gleichermaßen. Das war an jedem Tag der Augenblick, da sie an zu Hause denken mussten, und daran, wie nahe der Tod war. Als die Sängerin geendet hatte, schaltete Leary das Funkgerät ab.
    Gerald kippte den letzten Schluck Rum hinunter und stellte seinen Becher in den Wagen zurück. Da erblickte er plötzlich eine dunkle Gestalt, die sich von der Oase her näherte. Als er nach seiner Pistole greifen wollte, fiel ihm ein, was er damit getan hatte.
    »Chips!«, zischte er. »Da kommt jemand. Vielleicht mehrere. Sag den anderen Bescheid.«
    Er sprang auf den Wagen und kroch hinter das Maschinengewehr. Die Gestalt bewegte sich rasch über den Sand – halb Schatten, halb reflektiertes Mondlicht. Ihr schien nichts daran zu liegen, ungesehen zu bleiben.
    Als der Schatten nur noch wenige Meter von den Fahrzeugen entfernt war, rief Gerald auf Tamasheq »Halt!« Die Gestalt blieb sofort stehen.
    »Ich muss euren Anführer sprechen«, sagte eine Frauenstimme. Gerald atmete erleichtert auf und bat sie, näher zu treten.
    »Was gibt’s?«, fragte er. Donaldson hatte nach dem Tanz noch einmal nach dem schlafenden Kind gesehen und gemeint, er könne nichts mehr tun. Entweder wirke das Medikament, oder das Kind müsse sterben. War die Frau gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass es tot sei?
    »Ich bin A’isha«, sagte sie, »Musa agg Isas Frau. Ist der Doktor hier?«
    »Donaldson«, rief Gerald, »komm mal her. Es ist die Frau des Chefs. Sie will mit dir reden.«
    Donaldson fuhr erschrocken zusammen. Er wusste, wie viel am Leben dieses kleinen Wesens hing. Als er aus dem Schatten des zweiten Fahrzeugs trat, lief die Frau auf ihn zu, warf sich vor ihm zu Boden, umklammerte seine Beine, weinte und lachte in einem fort. Dazwischen entströmten Wortfetzen ihrem Mund.
    »Zum Teufel, Bill, ich glaube, der Kleine kommt durch. Sie denkt, Sie seien ein Wundertäter. Fast ein Gott.«
    Er hatte mit seiner Vermutung recht. Als A’isha sich wieder etwas beruhigt hatte, berichtete sie Gerald, ihr Sohn sei aufgewacht und habe nach Essen verlangt. Die Reste des Gastmahls, die sie ihm gab, habe er bei sich behalten. Der Arzt hieß sie aufstehen und zeigte seinerseits, wie froh er war.
    »Es weiß noch niemand davon«, sagte sie. »Nur meine Schwestern. Ich wollte es Ihnen zuerst sagen und Ihnen dafür danken, dass Sie sein Leben gerettet haben. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Mein Mann, mein Sohn und ich selbst werden immer in Ihrer Schuld sein.«
    Donaldson, ganz aus der Fassung gebracht, wollte sofort nach dem Jungen schauen. Aber A’isha hob die Hand und schüttelte den Kopf.
    »Er schläft jetzt wieder«, sagte sie. »Bevor Sie nach ihm schauen, folgen Sie mir bitte. Sie alle. Das ist Ihre Belohnung.«
    Die Männer

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