Die zweite Kreuzigung
Erwachsenen, die sie noch werden sollten.
Am Ende dieses Ganges traten sie in einen dunklen Raum, der keine Wände zu haben schien. Jetzt schalteten sie ihre Helmlampen ein, deren Strahlen durch die Dunkelheit fuhren wie Scheinwerfer im Kriegsgebiet und ihnen nach und nach eröffneten, dass sie in einer Art Halle standen, die eine Holztreppe in zwei Teile zerschnitt. Das Geländer war mit kleinen Wappen geschmückt, auf denen in verblichenen Farben die heraldischen Sinnbilder von Adelsgeschlechtern sowie von umliegenden Städten und Ortschaften zu sehen waren.
Die Lampen ließen eine gepanzerte Hand mit langem Schwert vor einem Rebstock mit Weintrauben hervortreten. Weiter oben säugte eine Wölfin auf weißem Grund unter einer Krone ihre Jungen, und auf einem Wappen darüber ragten eine Kirche und ein Schloss mit hohen Türmen auf. Ilona bemerkte, dass an mehreren Orten ein Engel und ein Löwe zu beiden Seiten eines Kreuzes mit Sonne und Halbmond darüber zu sehen waren. Darunter erblickten sie etwas Merkwürdiges. Ein schwarzes Wappenschild war in zwei Teile geteilt und trug kleine weiße Hakenkreuze auf der linken sowie ein einzelnes goldenes Kruzifix auf der rechten Seite. Die Farben waren frischer, und es musste neuer sein als die übrigen. Seine Bedeutung erschloss sich ihnen nicht. Ethan fiel ein, dass das Hakenkreuz im Buddhismus oder Hinduismus ursprünglich eine positive Bedeutung gehabt hatte, in welcher dieser Religionen, konnte er sich nicht erinnern.
Sie wagten sich weiter in die Halle vor. Dabei war ihnen bewusst, dass jeden Moment jemand auftauchen und ihre Lampen entdecken konnte. Ethan führte Ilona zu der Treppe, die sie vorsichtig hinaufstiegen. An den Wänden legten ihre Lampen eine ganze Galerie riesiger Gemäldefrei, wiederum Porträts, aber nicht von Kindern. Dies waren Herren und Damen in aller Herrlichkeit verblichener Adelsgeschlechter. Woiwoden und Bojaren in schwarzen Mänteln, unter denen goldbetresste Gewänder hervorlugten, in Amtsketten, eine Hand mit beringten Fingern auf einen Schwertknauf gestützt. Die Damen an ihrer Seite erstrahlten wie lebendig gewordene Gobelins. An ihren Ohrgehängen aus Perlen, Halsketten aus Smaragden, den Ringen mit Rubinen, Saphiren und Amethysten an den zarten Händen hatte man nicht gespart.
Auch hier war die Stille mit Händen zu greifen. Hoch oben schmückten uralte Teppiche die Wände, hingen Fahnen schlaff an ihren Stangen, entweder von Motten zerfressen oder in lange vergangenen Schlachten verschlissen.
Sie erreichten den Treppenabsatz und wandten sich nach links, um ins nächste Stockwerk zu gelangen. Dabei horchten sie auf jeden Laut, auf jedes Zeichen für die Anwesenheit von Menschen. Nichts regte sich. Aber Ethan wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie ungesehen beobachtete, ihnen folgte, während sie die steilen Stufen erklommen.
Nun wurde klar, dass sich das Schloss vom zweiten Stockwerk an in zwei Flügel teilte, jeweils gekrönt von einem Turm und einem weiteren Türmchen mit Erkern dahinter. Hätten sie diese erkunden wollen, wären sie wohl in dem Gewirr von Gängen, Treppen und verborgenen Durchschlupfen verloren gewesen. So mussten sie sich nach ihrem Gefühl orientieren und entschieden sich schließlich für einen Korridor, der sie hoffentlich zu dem erleuchteten Raum führen würde. Was immer dort auf sie warten mochte.
Vor der dritten Tür blieb Ethan stehen und schaltete seine Lampe aus. Ilona tat es ihm gleich. Mit angehaltenemAtem entsicherte er die Pistole, bevor er den Knauf drehte und die Tür sachte öffnete.
Sie traten ins Dunkel wie Vögel, die plötzlich in die Nacht hinausfliegen. Natürlich war es möglich, dass sie im richtigen Raum standen und jemand inzwischen das Licht gelöscht hatte. Ethan schaltete seine Helmlampe wieder an, ebenso Ilona. Da sie nicht wussten, was sie zu erwarten hatten, brauchten sie einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Nach und nach machten sie ein Ledersofa aus, dazu zwei Ledersessel, einen Kamin, einen Schreibtisch voller Papiere und diversen Gegenständen, darunter ein altmodisches Telefon. Der ganze Raum und sein Mobiliar wirkten irgendwie alt auf sie. Das lag nicht an den mittelalterlichen Mauern, sondern an der Atmosphäre. Er wurde offenbar benutzt, denn nirgendwo war Staub zu entdecken, aber er war auf seine Weise unmodern. Es hing noch etwas Wärme darin, als ob jemand hier vor kurzem vor einem offenen Feuer gesessen hätte. Ethan trat zum Kamin. Tatsächlich fand er
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