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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sie denn am Rand der Lichtung unter den Bäumen entlang, mit deren Schatten sie verschmolzen. Sie kamen nur mühsam voran, denn die Bäume bildeten ein fast undurchdringliches Dickicht. Zudem lag frischer Schnee, in den sie bis zu den Knien einsanken.
    Sie brauchten etwa zwanzig Minuten, um die Rückseite des Bauwerks zu erreichen. Hier war alles dunkel, kein einziges Lämpchen brannte zur Sicherheit oder als Zeichen. Das Mondlicht ließ die Umrisse von Türen und Fenstern scharf hervortreten. Sie machten drei Eingänge aus – zwei an den Ecken und einen in der Mitte. Ethan ging geradewegs auf den nächstliegenden zu und griff in die Tasche nach einem Bund von Dietrichen, die Lindita ihm für eine Situation dieser Art zugesteckt hatte. Von Einbrechern, die ihm vor Jahren ins Netz gegangen waren, wusste er, wie man Schlösser knackte.
    Bevor er sich an dem Türschloss zu schaffen machte, prüfte er die Umgebung sorgfältig, um sicherzugehen, dass es keine Alarmanlage gab. Ilona tat es ihm gleich. Mit dem bloßen Auge war nichts zu erkennen. Das Türschloss erwies sich als altmodisch und verrostet. Ethan brauchte kaum eine Minute, um es zu öffnen. Langsam drehte erden Türknauf, wobei er in Handschuhen an dem eisigen Metall kaum Halt fand.
    Er drückte die Tür auf und trat ein. Die Dietriche waren wieder in der Tasche und die Pistole in seiner Hand. Ilona hielt sich hinter ihm. Als sie die Tür geschlossen hatte, standen sie in tiefem Schweigen. Es war stockdunkel ringsum, eine dichte, würgende Finsternis. Ilona schaltete eine Taschenlampe an. Sie befanden sich in einem kurzen Gang, der auf eine schwere Holztür zulief. Dahinter konnte alles sein – ein weiterer dunkler Raum oder ein hell erleuchtetes Gemach voller Schlossbediensteter. Ethan horchte eine Weile und kam dann zu dem Schluss, dass dort niemand war. Vielleicht. Ilona knipste die Taschenlampe aus. Er fasste an die Klinke und öffnete die zweite Tür.
    Auch hier tiefe Dunkelheit. Und die gleiche Stille. Als Ilona wieder leuchtete, standen sie in einer Art Spielzimmer. An der Wand hing eine Dartscheibe, in einer Ecke war ein Tischfußballspiel und ein Billardtisch. Es war ein großer kalter Raum mit niedriger Decke. Ob hier wohl jemand mit steifen Fingern Billard spielte? Wurde der Raum im Winter überhaupt benutzt? Konnte man aus dem Zustand des Raumes etwas darüber erfahren, wie viele Menschen zur Zeit das Schloss bewohnten?
    Hinter der nächsten Tür wieder ein Gang. An der Decke brannten in größeren Abständen trübe Birnen in kleinen Drahtkäfigen. Links und rechts gingen Türen ab. Auch hier befanden sie sich offenbar noch im Dienstbereich, denn die hellgrün gestrichenen Wände mit feuchten Flecken waren ohne jeden Schmuck, der Fußboden nacktes Holz.
    Für welche Tür sollten sie sich entscheiden? Ethan musste an Rätsel denken, die ihm die Märchen seiner Kindheit aufgegebenhatten: Welche der drei Türen würde den kühnen Ritter passieren lassen? Hinter welcher saß die schöne Prinzessin, und wo waren die bösen Drachen? Dieser Gang musste mindestens ein Dutzend haben. Vorsichtig tasteten sie sich vorwärts und prüften jede einzelne. Einige trugen Schildchen mit Aufschriften wie
Bucatarie. Câmarâ. Furnituri.
    »Küche und Lagerräume, oder so«, bemerkte Ilona, die den Strahl ihrer Lampe über die handgeschriebenen Wörter in altmodischer rumänischer Schrift gleiten ließ.
    Am Ende des Ganges erwartete sie eine rot gestrichene, viel benutzte Tür, über der auf einem Schild das Wort
Scarâ
stand.
    »Eine Treppe!«, sagte Ilona.
    Dahinter ging es steil ins obere Stockwerk hinauf.
    »Da müssen wir hin«, erklärte Ethan. »Zu dem erleuchteten Zimmer.«
    Am Ende der Treppe kam eine rote Tür, ebenso abgenutzt von den vielen Jahren, in denen Diener, mit schweren Tabletts beladen, sie aufgestoßen hatten. Sie führte in einen schmalen dunklen Gang, der schon wesentlich wohnlicher wirkte. Hier hingen Ölbilder von Kindern in kostbaren Gewändern, deren Gesichter im scharfen Licht der Taschenlampe aufleuchteten und wieder verschwanden. Es waren offenbar allesamt kleine blaublütige Aristokraten, gehüllt in Pelze, Samt und Seide, die Mädchen mit sorgfältig geflochtenen Frisuren, die Jungen in Stiefeln und Hosen aus Leder. Sie hatten die Gesichter von Geistern, deren Augen zu erkennen suchten, welch lebende Menschenwesen da gerade vorübergingen. Ethan wollte sie ignorieren, aber sie starrten ihn hochmütig an – Kinder und zugleich die

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