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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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und sie reichten sie wortlos herum.
    „Was geht hier vor?“ fragte ich Lya. Dann, bevor sie antworten konnte, erinnerte ich mich. An etwas aus der Literatur, die uns Valcarenghi geschickt hatte. Die Gebundenen arbeiteten nicht. Vierzig Erdenjahre lang lebten und schufteten sie, aber von der Ersten Bindung bis zur Letzten Vereinigung gab es nur noch Freude und Musik für sie, und sie wanderten durch die Straßen, schwangen ihre Glocken, unterhielten sich und sangen, und die anderen Shkeen gaben ihnen zu essen und zu trinken. Es war eine Ehre, einen Gebundenen zu bewirten, und der Shkeen, der die Fleischpasteten gespendet hatte, strahlte Stolz und Freude aus.
    „Lya“, flüsterte ich, „kannst du sie jetzt lesen?“
    Sie nickte gegen meine Brust und löste sich von mir und starrte auf die Gebundenen, ihre Augen verwandelten sich, wurden hart, dann, nach einer Weile, wieder weicher. Sie sah wieder auf mich. „Es ist anders“, sagte sie eigenartig.
    „Wie anders?“
    Sie blinzelte ratlos. „Ich weiß nicht. Ich meine, sie lieben uns noch immer und all das. Aber jetzt sind ihre Gedanken, nun, irgendwie mehr – menschlicher. Du weißt, es gibt verschiedene Ebenen, und tiefer hineinzugraben ist nicht leicht, und dort gibt es versteckte Dinge, Dinge, die sie sogar vor sich selbst verbergen. Es ist nicht mehr alles so offen, wie es vorhin war. Sie denken jetzt an das Essen und wie gut es schmeckt. Alles ist sehr deutlich. Ich habe die Pasteten regelrecht schmecken können. Aber es ist nicht das gleiche.“
    Ich hatte eine Idee. „Wie viele geistige Individuen sind da?“
    „Vier“, sagte sie. „Irgendwie miteinander verbunden, glaube ich. Aber nicht richtig.“ Sie unterbrach sich verwirrt und schüttelte den Kopf. „Ich meine, es ist so, daß jeder die Gefühle des anderen mitempfindet, ungefähr so, wie du das tust, würde ich sagen. Aber keine Gedanken, keine Einzelheiten. Ich kann sie lesen, aber sie lesen einander nicht. Jeder ist für sich. Vorhin, als sie die Glocken geläutet haben, waren sie enger miteinander verbunden, aber sie waren stets Individuen.“
    Ich war etwas enttäuscht. „Vier Bewußtseins-Einheiten also, nicht nur eine?“
    „Mhmm, ja. Vier.“
    „Und die Greeshka?“ Meine andere glänzende Idee. Wenn so ein Greeshka ein eigenes Bewußtsein hatte …
    „Nichts“, sagte Lya. „Als würde man eine Pflanze lesen oder ein Kleidungsstück. Nicht einmal Ja-ich-lebe.“
    Das war beunruhigend. Selbst die niedrigeren Tierarten hatten ein vages Lebensbewußtsein – das Gefühl, das wir Talente Ja-ich-lebe nannten –, meist nur ein schwacher Funke, den nur ein starkes Talent aufspüren konnte. Aber Lya war ein starkes Talent.
    „Wir müssen mit ihnen reden“, sagte ich. Sie nickte, und wir gingen dort hinüber, wo die Gebundenen saßen und an ihren Fleischpasteten schmatzten. „Hallo“, sagte ich unsicher, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich sie anreden sollte. „Sprecht ihr Terranisch?“
    Drei von ihnen schauten mich verständnislos an. Der vierte jedoch, der Kleine, dessen Greeshka ein wuchernder roter Umhang war, ruckte mit dem Kopf auf und ab. „Ein bischchen“, sagte er mit einer piepsenden Lispelstimme.
    Ich hatte plötzlich alles vergessen, was ich hatte sagen wollen, aber Lyanna kam mir zu Hilfe. „Wißt ihr von den menschlichen Gebundenen?“ sagte sie.
    Er grinste. „Alle Gebundenen schind einsch“, sagte er.
    „Oh“, machte ich. „Also gut, aber kennt ihr welche, die so aussehen wie wir? Groß, weißt du, mit Haaren, und rosa oder brauner Haut?“ Wieder kam ich nicht mehr weiter, und ich begann mich auch zu fragen, wieviel Terranisch der verhutzelte alte Shkeen wohl verstand.
    Der Kopf seines Greeshka wackelte von der einen Seite auf die andere. „Die Gebundenen sind alle verschieden, aber alle schind einsch, alle schelbes Leben. Mansche schehen ausch wie ihr. Wollt ihr gebunden werden?“
    „Nein, danke“, sagte ich. „Wo kann ich einen menschlichen Gebundenen finden?“
    Er wiegte seinen Kopf wieder.
    „Gebundene schingen und läuten und wandern durch heilige Stadt.“
    Lya hatte ihn gelesen. „Er weiß es nicht“, sagte sie zu mir. „Die Gebundenen müssen wandern und ihre Glocken läuten. Sie haben keine festen Routen, niemand kümmert sich um System. Alles ist Zufall. Einige ziehen in Gruppen umher, einige allein, und jedesmal, wenn mehrere Gruppen aufeinandertreffen, bilden sich neue Gemeinschaften.“
    „Wir werden suchen müssen“, sagte

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