Die zweite Stufe der Einsamkeit
am Hinterkopf des einen Shkeen bis hin zu einem großen Lappen aus fettigem, sich bewegendem Rot, das Kopf und Schultern des kleinsten Shkeen wie eine lebendige Kapuze bedeckte.
Die Greeshaka lebten von den Nährstoffen, die sie dem Blutkreislauf der Shkeen entzogen, das wußte ich.
Und auch davon, daß sie langsam – oh, sehr langsam – ihren Wirt auffraßen.
Lya und ich blieben ein paar Schritte vor ihnen stehen und sahen ihnen zu, wie sie läuteten. Ihr Gesicht war ernst, und ich schätze, meins auch. Alle anderen lächelten, und die Lieder, die die Glocken sangen, waren Lieder der Freude. Ich drückte Lyannas Hand heftig.
„Lies“, flüsterte ich.
Wir lasen.
Ich: Ich habe die Glocken gelesen. Nicht den Klang der Glocken, nein, nein, sondern das Gefühl der Glocken, die Emotionen der Glocken, die helle, tönende Freude, das laute, rufende, jubilierende Tönen, den Gesang der Gebundenen, die Zusammengehörigkeit und das Gemeinsam-Fühlen. Ich las, was die Gebundenen fühlten, als sie ihre Glocken schwangen, ihr Glück und ihre Vorfreude, ihre Ekstase, andere durch ihr Läuten an ihrer Erfüllung teilhaben lassen zu können. Und ich las Liebe, sie strömte in großen, heißen Wogen von ihnen aus, die leidenschaftliche, besitzergreifende Liebe, die Mann und Frau miteinander teilen, nicht die schwache, verwässerte Zuneigung des Menschen, der seine Nächsten ‚liebt’. Diese Liebe war echt und glühend, und sie brannte fast, als sie über mich hinwegbrodelte und um mich herumwirbelte. Sie liebten sich selbst, und sie liebten alle Shkeen, und sie liebten die Greeshka, und sie liebten einander, und sie liebten uns. Sie liebten uns. Sie liebten mich – so heiß und wild, wie mich Lya liebte. Und mit der Liebe las ich Zusammengehörigkeit und Anteilnahme. Jeder der vier Shkeen war anders als der andere, war ein Individuum, aber sie dachten beinahe so, als wären sie eins, und sie gehörten zu den Greeshka, und sie waren alle zusammen und miteinander verbunden, obwohl nach wie vor jeder er selbst war und keiner die anderen lesen konnte, so wie ich sie las.
Und Lyanna? Ich taumelte von ihnen zurück, verschloß mich vor ihnen und sah Lya an. Sie war bleich, aber sie lächelte. „Sie sind schön“, sagte sie, und ihre Stimme war leise und sanft und verwundert. Von Liebe erfüllt, dachte ich daran, wie sehr ich sie liebte und daß ich ein Teil von ihr war und sie ein Teil von mir.
„Was … was hast du gelesen?“ fragte ich sie; meine Stimme kämpfte gegen den unermüdlichen Jubel der Glocken an.
Sie schüttelte den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen. „Sie lieben uns“, sagte sie. „Du mußt das wissen, aber ich – ich fühle es, sie lieben uns wirklich. Und es ist eine so tiefe Liebe. Unter dieser Liebe ist wieder Liebe und darunter wieder und wieder – bis ins Unendliche. Ihr Geist ist so tief, so offen. Ich glaube nicht, daß ich jemals einen Menschen so tief hinunter lesen könnte. Alles ist der Oberfläche greifbar nahe, es drängt sich mir entgegen, ihr ganzes Leben und all ihre Träume und Gefühle und Erinnerungen und – oh, ich nahm es auf, ich trank es mit dem Lesen in mich hinein. Bei Menschen, bei Humanoiden ist es so mühsam. Ich muß danach graben, ich muß kämpfen, und trotzdem komme ich niemals sehr tief. Du weißt das, Robb, oh, du weißt es. Oh Robb !“ Und sie kam zu mir und schmiegte sich fest an mich, und ich hielt sie in den Armen. Die Sturzflut der Gefühle, die über mich hereingebrochen war, mußte für sie wie eine gewaltige Flutwelle gewesen sein. Ihr Talent war stärker und sensibler als das meine, und jetzt war sie erschüttert von diesem Erlebnis. Ich las sie, als sie sich an mir festklammerte, und ich las Liebe, starke Liebe, und Staunen und Glück, aber auch Angst, nervöse Angst, die alles durcheinanderwirbelte.
Um uns herum verstummte das Läuten plötzlich. Die Glocken pendelten aus, eine nach der anderen, und die vier Gebundenen standen einen kurzen Augenblick lang schweigend da. Einer der anderen Shkeen aus der Nähe trat mit einem großen, tuchüberdeckten Korb vor sie hin. Der kleinste der Gebundenen warf das Tuch zurück, und der Duft heißer Fleischpasteten breitete sich in der Straße aus. Jeder der Gebundenen nahm sich mehrere aus dem Korb, und ein paar Augenblicke später knabberten sie alle vergnügt an ihren Pasteten, und der Spender sah ihnen lächelnd zu. Ein kleines, nacktes Shkeen-Mädchen lief zu ihnen hin und bot ihnen eine Wasserflasche dar,
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