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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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ist?“
    „Darauf komme ich jetzt“, sagte der alte Mann. Er nahm einen Doughnut auf, tunkte ihn in seinen Kaffee, biß nachdenklich hinein und kaute.
    „Die nächste Sache geschah etwa zwei Jahre später“, sagte er schließlich. „Ein Bursche meldete den Polizisten einen Zusammenstoß. Einen Zusammenstoß mit einem Edsel. Spät in der Nacht. Auf der Autobahn. So wie er ihn beschrieben hat, war es eine genaue Wiederholung des anderen Unfalls. Nur, als sie am Unfallort ankamen, war sein Auto nicht einmal verbeult. Und von dem anderen Wagen gab es keine Spur.
    Nun, der Bursche war ein Junge aus dieser Gegend, deshalb wurde es als eine Art Wichtigtuerei abgetan. Aber dann kam ein Jahr später ein anderer Bursche mit derselben Geschichte an. Er war aus dem Osten, konnte unmöglich von dem ersten Unfall gehört haben. Die Polizisten wußten nicht so recht, was sie davon halten sollten.
    Im Lauf der Jahre geschah es immer wieder. Ein paar Dinge hatten alle Unfälle gemeinsam. Jedesmal war es spät in der Nacht. Jedesmal war der beteiligte Mann allein in seinem Wagen, und kein anderes Auto war in Sicht. Nie gab es irgendwelche Zeugen, wie es sie für den ersten Unfall, den echten, gegeben hatte. Alle Zusammenstöße ereigneten sich direkt hinter der Ausfahrt 77, als der Edsel seitlich ausbrach und versuchte, eine Kehrtwendung zu machen.
    Eine Menge Leute haben versucht, es zu erklären. Halluzinationen, sagte jemand. Autobahnpsychose, behauptete ein anderer. Falschmeldungen, entgegnete ein dritter Bursche. Aber nur eine Erklärung hat je einen Sinn ergeben, und das war die einfachste. Der Edsel ist ein Gespenst. Die Zeitungen haben die Sache ausgeschlachtet. ‚Die Spuk-Autobahn’ haben sie die Autobahn genannt.“
    Der alte Mann unterbrach sich, um seinen Kaffee zu leeren und starrte dann trübsinnig in die Tasse. „Tja, die Unfälle setzten sich Jahr für Jahr fort – sooft die Bedingungen übereinstimmten. Bis ’93. Und dann begann der Verkehr nachzulassen. Immer weniger Leute benutzten die Autobahn. Und es gab immer weniger Zwischenfälle.“ Er schaute zu mir auf. „Sie sind der erste seit mehr als zwanzig Jahren. Ich hatte es fast vergessen.“ Dann sah er wieder hinunter und wurde still.
    Ich dachte ein paar Minuten lang darüber nach, was er gesagt hatte. „Ich weiß nicht“, sagte ich schließlich und schüttelte den Kopf. „Es paßt alles zusammen. Aber ein Gespenst? Ich denke nicht, daß ich an Gespenster glaube. Und es scheint alles so fehl am Platz.“
    „Nicht wirklich“, sagte der alte Mann und hob den Blick. „Denken Sie an all die Geistergeschichten zurück, die Sie als Kind gelesen haben. Was hatten Sie alle gemeinsam?“
    Ich runzelte die Stirn.
    „Keine Ahnung.“
    „Gewaltsamer Tod, das ist es. Gespenster waren die Ergebnisse von Morden und von Hinrichtungen, Trümmer von Blut und Gewalt. Spukhäuser waren ausschließlich jene Häuser, in denen jemand vor hundert Jahren ein grausiges Ende gefunden hatte. Aber in Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts fand man den gewaltsamen Tod nicht in Herrenhäusern und Schlössern. Man fand ihn auf den Autobahnen, den blutbefleckten Autobahnen, auf denen jedes Jahr Tausende starben. Ein modernes Gespenst würde nicht mehr in einem Schloß leben oder eine Axt schwingen. Es würde auf einer Autobahn spuken und ein Auto fahren. Was könnte logischer sein?“
    Es ergab einen gewissen Sinn. Ich nickte. „Aber warum diese Autobahn? Warum dieses Auto? So viele Leute sind auf den Straßen gestorben. Warum ist dieser Fall etwas Besonderes?“
    Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Was hat einen Mord vom anderen unterschieden? Warum erzeugen nur einige Gespenster? Wer kann es schon sagen? Aber ich habe die Theorien gehört. Manche lauteten, der Edsel sei verdammt, auf ewig auf der Autobahn zu spu ken, weil er, in gewissem Sinn, ein Mörder ist. Er verursach te den Unfall, verursachte dieses Sterben. Dies ist eine Strafe.“
    „Vielleicht“, sagte ich zweifelnd. „Aber die ganze Familie? Sie könnten einwenden, daß es die Schuld des Jungen war. Oder auch die des Vaters, weil er ihn mit so wenig Erfahrung hat fahren lassen. Aber was ist mit dem Rest der Familie? Warum sollten sie bestraft werden?“
    „Stimmt, stimmt“, sagte der alte Mann. „Ich selbst habe diese Theorie nie geglaubt. Ich habe meine eigene Erklärung.“ Er sah mir direkt in die Augen.
    „Ich denke, sie haben sich verirrt“, sagte er.
    „Verirrt?“

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